Ein Herrenhaus im hohen Norden. Verwaist jetzt. Nur eine Ahnung noch die Vorfahren, die hier gelebt und geteilt haben. Arbeit und Brot. Ein Bruder ruft nach seiner Schwester. Jetzt wo er alleine ist und sie folgt.
“Ich kam im Frühling an, als ein Ostwind wehte, ein unheimlicher Wind, wie sich herausstellte. Mit der Zeit ereigneten sich bestimmte Dinge.” (Zitat Sarah Bernstein)
Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein
Frau und Kinder haben ihn verlassen und er kann nicht allein sein. Sagt er und sie glaubt ihm. Allein bleiben in ihrem Elternhaus. Einem riesigen Kasten, der zu seiner Bewirtschaftung fraglos Personal bräuchte. Was, so der Bruder nicht sein muss, wenn es eine Schwester hat, die mit Leidenschaft anderen dient. Als Kind schon, hat sie für die Geschwister alles getan. Viele waren es, heute sind sie offenbar uneins und in alle Winde zerstreut. Die kleine Schwester folgte. Immer. Jeder Anweisung und dem Ruf des Bruders. Das sagte ich schon. Folgt wie ein Hündchen.
Lässt ihr eigenes Leben stehen, wie ein Bruchbude, folgt ohne zu zögern. Um ihren Bruder zu bekochen, ihm in der Badewanne den Rücken zu waschen, ihn anzukleiden. Jetzt sollte man anmerken, dass der Bruder dem Grunde nach keiner Pflege bedarf (zunächst…). Er kann sich sehr wohl allein waschen und anziehen. Ist Geschäftsmann durch und durch. Reich offenbar auch. Lässt sich halt gern bedienen.
Meine Augenbrauen schnellen hoch. Was bitte ist denn da los? Was ist los mit dieser Frau? Die sich in Gehorsam übt, den eigenen Willen abschaltet.
Was ist in dieser Familie passiert? Man hat sie offenbar domestiziert wie ein Haustier?
Als ich es kaum fassen kann, drückt Sarah Bernstein erst einmal auf die Pausetaste und lässt den Bruder verreisen. Dienstreise, es ist eilig. Sie soll bleiben, das Haus braucht eine Hüterin und die Dorfgemeinschaft kann mit jeder Hand etwas anfangen. Da sie die Sprache der Dorfbewohner nicht spricht und die nicht Englisch, übersetzt der Bruder per Telefon die Arbeitsaufträge. Auch dem Gemeinwohl sollte sie besser dienen. Will sie keine Außenseiterin bleiben. Belehrt er sie. Die aber als eine solche fühlt. Als außen vor. Was sie immer schon war und seltsam.
Auf mich wirkt sie wie eine tickende Zeitbombe, die namenlos bleibende Heldin dieser Geschichte. Bedrohlich schwelt es unter der Oberfläche und ich wappnete mich insgeheim für den großen Crash.
Sarah Bernstein, geboren am 23. April 1987, in Montreal/ Kanada, lebt und schreibt in Schottland, wo sie auch Kreatives Schreiben unterrichtet. Zwei Romane und Lyrik hat sie bislang veröffentlicht, Übung in Gehorsam, in der Übersetzung von Beatrice Faßbender, ist ihr erster der auf Deutsch erschienen ist. Sie gewann mit dieser Geschichte den kanadischen Giller Prize und schrieb sich auf die Shortlist des Booker Prize. Lieben Dank an den Wagenbach Verlag für das Rezensionsexemplar, der Titel gehört hier zum diesjährigen Frühjahrsprogramm.
Wenn Lyrikerinnen Romane schreiben, dann merke ich regelmäßig auf. So auch hier. Oft fehlt es mir dann an Worten, oder an den passenden um zu fassen, WIE ihnen ihr Erzählen gelungen ist. Diesmal ist es mir besonders schwer gefallen.
Wie beschreibe ich Sarah Bernsteins Sprache am Besten? Die wunderschöne Übersetzung von Beatrice Faßbender. Beide schaffen es, den Text durch die Sprache nicht zu beschweren, sie trägt ihn. Kühl und elegant, die Sätze gemessen und gewogen, würde ich sagen. Hier sitzt jedes Wort und es trifft. Den Kern der Sache. Deshalb gebraucht Bernstein nicht viele um zu umreißen, mit wem man es hier zu tun hat und wie diejenige tickt.
Gemeint ist ihre namenlos bleibende Protagonistin. Es genügt sie denken und agieren zu lassen um zu verstehen. Sie ist anders. Das Wie und Warum anders aber ist nicht so leicht zu fassen. Sehr geschickt hält die Autorin damit hinter dem Berg.
Ohne wörtliche Rede, vielfach absatzlos, dafür tief in Gedanken. Erzählt die Heldin Sarah Bernsteins in der Ich-Form von ihrer Zeit mit und ohne den Bruder, vom Stallausmisten, dem Dienst an der Gemeinschaft, von Fremdheit, von Vogelgrippe und dem Gefühl “lost in translation” zu sein, davon leeren Tagen Form zu geben.
Reduziert und gleichzeitig überbordend in ihrer gedanklichen Fülle nimmt sie uns bei der Hand. Ein Widerspruch meint ihr? Hmh, ja, einer der mich herausgefordert hat, teils war es anstrengend zu folgen. Anstrengend, so genau ist sie in der Beobachtung, kein Detail scheint ihr zu entgehen. Diese für mich unbegreifbare Frau.
Wo führt sie mich hin mit diesem Gedanken? Was darf ich getrost als Gewissheit annehmen? Wo werde ich getäuscht? Von ihr. Wo täuschen sich die Anderen. In ihr. Was ist verblasste Erinnerung, was real?
Ein Verdacht keimt zwischen den Zeilen, schlägt Wurzeln, hinter den Sätzen. Hält sich in mir fest. Was ist das mit ihr und ihrem Bruder und warum siecht er plötzlich nach seiner Rückkehr dahin?
Streckenweise fassungslos, wie man so fremdbestimmt, so konditioniert agieren kann, starre ich auf den Text. Fast bin ich erleichtert, als ich ein Aufbegehren spüre, dann ungläubig. Was tut sie da? Wie subtil sie es anstellt, sich nach außen hin immer noch hinten anstellt. Wie sie jeglichem Misstrauen trotzt.
Was für einen Sonderling habe ich hier vor mir? Eine Psychopatin? Eine Soziopatin? Diese Fragen klären sich nicht restlos. Ein Stück weit sprachlos lassen sie mich zurück. Sarah Bernstein und ihre Geschichte. Die offenen Fragen.
Was habe ich überlesen? Was nicht verstanden? Oder doch alles und will ich es nur nicht wahrhaben?
Fügsamkeit und Unterwerfung. Macht. Um sie geht es auch. Um Macht durch Manipulation und darum: Wer trägt Schuld. Der Manipulierte oder der, der manipuliert hat? Wenn es kracht.
Gibt es so etwas wie den bösen Blick? Warum sonst häuft sich das Unglück, nachdem Bernsteins Heldin im Ort aufgetaucht ist? Kann das Zufall sein? Neigen wir nicht dazu bei allem was geschieht, uns geschieht, immer zuerst nach einer/einem Schuldigen zu suchen?
Leicht kafkaesk, mit exzellent austarierter Wortwahl und philosophisch aufgeladener Atmosphäre bleibt Bernstein gekonnt rätselhaft, erzählt nicht zu Ende, lässt viel zwischen den Zeilen stehen, bis zum Schluss und beeindruckte mich vor allem anderen damit. Mit ihrer Gabe zu verdichten. Ohne Absätze, ohne wörtliche Rede auszukommen, einen Gedankenkosmos ausbreitend, in den sie mich rasch verstrickt und mit großen Augen und weit geöffneten Ohren staunen lässt.
Gut und gerne streckt sich bei ihr ein Satz schon einmal auf einer Viertelseite aus und ihre 152 Seiten haben es faustdick hinter den Buchstaben. Das und ihr Ausdruck allein verdienen ein erstes Wow!
Was für ein ungewöhnliches Buch. Eines, das man nicht jeden Tag liest. Eines, dass sich nicht offensichtlich erschließt. Das überdacht sein will. Eines, dass mich Grübeln lässt. Noch nach dem Lesen. Den Kopf schütteln auch. Dafür noch ein Wow!
Schreibe den ersten Kommentar