Nein, so sollte ein Leben nicht enden. Nicht im Wartesaal auf das Sterben und so sollte auch kein Leben beginnen. Und doch sind sie hier. Was bleibt, wenn man nichts mehr hat? Wenn man am Ende eines arbeitsreichen Lebens, oder aus vorgeschobenen Gründen “eingewiesen” wird, in ein Armenasyl. Wenn man sich von einem Tag auf den anderen am Rand der Gesellschaft wiederfindet. Bei Wasser, Brot, Gebet und Vorschriften. Was wenn ein Leben hier beginnt? Ein Kind, das missgestaltet oder minderbegabt ist keine Eltern findet? Wenn die eigenen getürmt sind.
Einrichtungen, wie die im Roman beschriebene, erfahre ich von seiner Autorin, wurden in der Schweiz bis in die 1970ziger Jahre unterhalten und sie nimmt uns dahin mit, ermöglicht uns einen Blick hinter die Kulissen. So ist ein Zeitdokument entstanden, das mich und jetzt greife ich vor, sehr angefasst hat:
Die Wünsche gehören uns von Katharina Geiser
Ihre beiden Töchter Anna und Idi hatten sie bis hierher begleitet. Nicht ohne sich zuvor über ihren schäbigen Koffer lustig zu machen. Begleitet bis ans Ende der Brücke, wo sie ein Leiterwagen abgeholt hatte, der der von Hand und mehreren Männern gekarrt wurde. Immerhin durfte sie jetzt sitzen, wenn auch wenig bequem.
Kaum geschafft hatte Elise es bis hierher. Auf ihren eigenen, offenen Beinen. Die, da war sie sich sicher, von der Lauge und den Bleichmitteln kamen, von ihrem Leben als Wäscherin, auch wenn der Arzt es auf ihr Alter schob. So wie das Rheuma. Mit ihm und den Schmerzen war sie noch klar gekommen. Aber mit diesen Wunden, dem Eiter, damit war nicht auskommen.
Nach dem Tod ihres Mannes war sie allein zurückgeblieben, in ihrem geliebten Zuhause, mit den drei Zimmern. Die Mittel waren knapp. Es hätte der Hilfe bedurft. Eine Einweisung ins Brüggli, das war es, was ihrer ältesten Tochter Anna dazu eingefallen war, sie hatte es vorangetrieben und ihr, Elise, fehlten das Geld und die Kraft sich zu wehren. Obwohl sie noch klar war im Kopf. Was es nicht leichter machte. Im Gegenteil.
Schwester Burga nahm sie auf, und ihre letzte Barschaft, die persönlichen Dinge in Empfang. Die musste sie abgeben, damit es keinen Neid gab. Untereinander. Keinen Streit. Man wies ihr ein Bett zu, in einem Raum mit sieben weiteren Frauen. Kein Stuhl, kein Nachttisch trennte sie voneinander und in ihrer ersten Nacht fand Elise keinen Schlaf. So war das also hier.
Katharina Geiser, 1956 in Erlenbach bei Zürich geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Pädagogik, sie lebt heute in Richterswil am Zürichsee. Die Wünsche gehören uns ist neben einem Erzählband ihr fünfter Roman und wieder sind es die ungewöhnlichen Menschen und Schicksale derer sie sich annimmt.
Von ihrer Großmutter Gertrud hat sich Katharina Geiser erzählen lassen, über ihre Ururgroßmutter Elise und ihre letzten Tage. Von dem Ort, an dem sie diese hatte verbringen müssen . Mit Dorfhistorikern, Denkmalpflegern und in den Staatsarchiven der Kantone Bern und Zürich hat sie recherchiert und gezeichnet hat sie. Bevor sie mit dem Schreiben dieser Geschichte begonnen hat. Das erzählt sie uns in ihrem Nachwort. Erst waren da die Gesichter der Bewohner ihres fiktiven Armenasyls. Dem Roman ist ein gezeichnetes Personenverzeichnis am Ende angefügt, in alphabetischer Reihenfolge kann mein das Bild, das man sich beim Lesen von den Bewohnern gemacht hat mit dem von Katharina Geiser abgleichen und ich finde es schlicht großartig, schaut mal, hier kommt ein Auszug:
Großartig, so wie dieser Roman. Der sich auf leisen Sohlen in mein Leseherz geschlichen hat. Auf Wollstrümpfen mit Löchern, die nicht gut riechen. Wie vieles hier nicht gut riecht. Nachts im Schlafsaal, wo schon mal die Fürze knattern.
Wie oft schon bin ich bei einer Buchentscheidung in die Coverfalle getappt? Wie oft wurde ein Versprechen, das ein Cover mir gab nicht eingelöst? Ich habe nicht mitgezählt. In diesem Fall, hat mich das Foto auf dem Schutzumschlag sofort gekriegt. Wie könnte es auch nicht. Es hat gehalten was es mir versprach, was das war, fragt ihr?
Etwas Besonderes, da war ich mir sicher. Etwas Vergängliches, Flüchtiges vielleicht. Verlorenes Glück. Am Ende eines Lebens.
Vorgefunden habe ich zufällig zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft von Kranken, Einsamen, Kindern und Erwachsenen, die ein unglücklicher Zufall oder auch pure Boshaftigkeit, oftmals die ihrer Familie zusammengebracht hat. Die jetzt miteinander klar kommen muss, in einer Welt aus strikten Regeln, Gottesfurcht und Verlassenheit.
Was meint ihr? Ist das Cover, in das der Salzburger Verlag Jung und Jung die Geschichte gehüllt hat nicht unglaublich? Unglaublich schön? Zart, zerbrechlich, ein klein wenig befremdlich auch, so wie die Sprache mit der Katharina Geiser ihren Figuren die Sätze auf den Leib schreibt. Ganz nah kommt sie ihnen und ich dadurch ihren Armenhäuslern. Sie dauern mich, sagt man bei uns, rühren mich an. Wie sie die elendigen Lebensumstände ihrer Brügglibewohner nachzeichnet, man riecht den Mief, schmeckt den Dreck, kratziger Wollstoff scheuert die Seiten auf. Mittendrin ist man als Lesende/r.
Wenig kann viel sein, wenn man einander hat. Sich Wünsche bewahren kann. Im Herzen. Neue Bindungen gründen sich, innerhalb dieser Zufallszweckgemeinschaft.
Liebevoll, nachsichtig und voller Empathie bleibt Katharina Geiser eng bei Ihrem Personal. Was sich jedem, jeder Einzelnen ins Gesicht geschrieben hat, erfasst sie warmherzig und auf den Punkt.
Nichts ist in ihrem Brüggli, dem Armenhaus ausreichend. Ausreichend vorhanden. Die Uhren ticken nicht anders, es gibt erst gar keine (sorry, das in der Schweiz!). Dafür Regeln und Verbote und Verlassen darf man Haus und Gelände auch nicht. Nicht ohne Erlaubnis und für die findet sich eher kein Grund.
Hat der liebe Gott eigentlich mit Tinte oder Bleistift geschrieben? Fragt Katharina Geiser. Mir scheint keiner dieser vorgezeichneten Lebenswege lässt sich mehr ausradieren.
Nicht der vom Stini, von Elise, Agnes, Marie, dem Ueli oder dem lungenkranken Dorli. Verwirrt, geistig abnorm, verlassen, verstoßen, verarmt, verwitwet oder ledig geboren. Das Schicksal ist mit allen hier Schlitten gefahren, aber so richtig.
1897 war Elises zweite Hochzeit gewesen, da war sie neundzwanzig. Fünfzwanzig Jahre lang hatte sie danach zu Gottfried Linder gehört. Bei ihm war sie willkommen gewesen, bis sein Herz auf dem Heimweg von der Arbeit einfach stehen geblieben war. Ab da ging es für sie bergab. Da konnte man noch so sehr wünschen.
Neben vielen Heimbewohnern ist mir die Nachtschwester Alice besonders ans Herz gewachsen. Auch sie muss den Mangel bewirtschaften, hat allzuoft nichts zum Lindern von Beschwerden zur Hand. Legt dann die ihre auf. Hört zu, spendet Trost. Sie sieht sie alle, gleich ob alt oder jung, Mann, Frau oder Kind. Macht keine Unterschiede. Wie gut das tut!
Unaufgeregt kommt diese Geschichte daher, ihre leisen Töne sind es, die bei mir einschlagen, die mich mitfühlen lassen, die mir gefallen haben. Sehr sogar.
Bewundert habe ich, wie Katharina Geiser es schafft, dass bei diesem Thema die Schwermut nicht überwiegt, wie sie einen ganz eigenen Humor immer wieder durchblitzen lässt. Wie sie vom Glück erzählt, dass in kleinen Dingen liegt. Von Erträumtem und unerfüllten Wünschen.
Ein wenig beschwert ist mein Herz am Ende der Lektüre nun doch. Aber auf eine gute Art.
Was führen wir doch für privilegierte Leben. Wir reisen, müssen schon auch sparsam sein, können uns aber doch so einiges leisten. Sind auch dann versorgt, wenn unsere Gesundheit nicht mitspielt. Was hoffentlich auch dann noch der Fall ist, wenn wir ein Alter erreicht haben, dass uns mehr und mehr zurückblicken lässt.
Diese Geschichte wird noch länger in mir nachklingen, so einfach lassen sich die Bilder, die sich in mir eingerichtet haben nicht löschen. Gut so und Danke dafür, liebes Team von Jung und Jung für dieses Besprechungsexemplar. Merci, vielmals, liebe Katharina Geiser für diese Einblicke.
Der Roman ist Ende Februar diesen Jahres erschienen, er umfasst 256 Seiten, die prall gefüllt sind mit Leben. Jetzt bin ich gespannt, was ihr sagen werdet …
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