Reichskanzlerplatz (Nora Bossong)

Ob sie bei der Tötung ihrer sechs Kinder selbst Hand angelegt hat, ist nicht eindeutig überliefert. Erhalten geblieben ist ein Abschiedsbrief an ihren Sohn Harald Quandt in dem sie angibt ihre Kinder Helga, Hildegard, Helmut, Hedwig, Holdine und Heidrun mit aus dem Leben zu nehmen, weil es ohne die Idee des Nationalsozialismus nichts wert sei. Magda Goebbels selbst starb durch eine Cyanidkapsel am 1. Mai 1945 im Führerbunker. Nach ihren Kindern und vor ihrem Mann.

Kaum zu glauben, dass Magda Friedländer, wie sie damals noch hieß, einst erwogen haben soll, mit ihrer Jugendliebe, dem Bruder einer Mitschülerin, Chaim Arlosoroff nach Palästina auszuwandern. Die als Tochter des katholischen Dienstmädchens Auguste Behrend und des Ingenieurs Oskar Ritschel 1901 in Berlin geborene Magda kam unehelich zur Welt. Ihr leiblicher Vater heiratete die Mutter erst nach ihrer Geburt. 1908 wurde sie von dem wohlhabenden jüdischen Kaufmann Richard Friedländer adoptiert, der ihre Mutter nach deren Scheidung 1905 heiratete. Er ermöglichte ihr ein Mädcheninternat und entsprechende Ausbildung.

Sie selbst ehelichte 1921 erstmalig den Industriellen Günther Quandt. Für die Heirat musste sie zuvor ihren jüdisch klingenden Namen Friedländer wieder ablegen, sie nahm den ihres leiblichen Vaters wieder an. Die Ehe mit Quandt war nicht glücklich, beide erzogen drei Söhne, zwei aus der ersten Ehe von Quandt und Harald, den Magda zehn Monate nach ihrer Hochzeit zur Welt brachte.

Nach ihrer Scheidung von Quandt 1929, bezog Magda eine repräsentative 7-Zimmer-Wohnung am Reichskanzlerplatz 3, machte das Haus zu ihrer Adresse und lernte Josef Goebbels kennen, wurde die Betreuerin seines Privatarchivs. Sie brach mit Hans. Beide heirateten 1933. Adolf Hitler war nicht nur Trauzeuge, sondern eng mit Magda und Goebbels befreundet. Der unverheiratete Hitler überließ ihr, einer “First Lady” gleich, die repräsentativen Pflichten einer Landesmutter, galt sie nach der Geburt ihrer Kinder doch als Vorzeigemutter und Ehefrau. Das die Ehe mit ihrem ersten Mann wegen Untreue geschieden worden war, ist der Propaganda sei dank, vergessen.

Gute Erinnerungen sind der Groschen, den wir jenen schenken, für die uns unsere Gegenwart zu schade ist.” *Textzitat Nora Bossong, Reichskanzlerplatz

In ihrem aktuellen Roman Reichskanzlerplatz setzt Nora Bossong an dieser Stelle an. Wir lernen Hans Kesselbach kennen, da befreundet sich der zukünftige Diplomat gerade mit Magdas Stiefsohn Hellmut. Hans wird in dieser Geschichte der Erzähler bleiben. Mit ihm lernen wir eine kultivierte und kunstinteressierte, schöne Frau kennen, der nach Bekanntwerden ihrer Scheidung von Quandt sogar der Neffe des US-Präsidenten, Herbert Hoover, einen Antrag machen sollte. Alles hätte noch ganz anders kommen können …

Museumsbesuche, Gala-Dinner, erzieherische Strenge und ein Sommer mit Folgen. Eine beinahe Berührung sorgt dafür, dass eine Jungenfreundschaft um ein Haar zerbricht. Vielleicht war sie aber auch keine und Hans wurde immer nur zu den Quandts eingeladen, weil Hellmuts Stiefmutter das so wollte?

Militärdienst und Soldatenlieder. Partyleben vor dem Krieg, Ehekrach und ein Studium in London.

Hans fühlte sich von Hellmut angezogen. Wird von ihm weggestoßen. Ein Unglück, der frühe Tod Hellmuts, soll die Stiefmutter und den Studentenfreund verbinden. Sie unglücklich in ihrer Ehe und er bemüht seine Homosexualität zu verbergen. In einer Zeit, in der Letzteres Gefahr bedeutete und Ersteres mindestens ein Skandal war.

Eine Blinddarmentzündung, eine Sepsis und Barbiturate, kosten Hellmut das Leben. Viel zu früh.

Nora Bossongs Ton bleibt kühl. In ihn gehüllt tritt Magda aus den Schatten und wieder zurück. Zu Wort kommt sie selbst nicht, die Geschichte spricht für sie. Zwischen den Zeilen schwebt was sie getan hat, tun wird. Während ihr Liebhaber sich erinnert und diese Zeit von mir aufersteht. Er, der sich weggeduckt, seine Augen fest verschlossen hat.

Mitläufertum, wie schnell es gehen kann, den Gleichschritt aufzunehmen, auszublenden, wegzusehen, sich als Einzelner entmachtet zu fühlen, aufzugeben.

Nora Bossong, geboren am 09. Januar 1982 in Bremen, studierte Literatur, Kulturwissenschaft, Philosophie und Komparistik, wurde für ihr Schreiben mehrfach preisausgezeichnet. Ihr aktueller Roman Reichskanzlerplatz gehörte in diesem Jahr zu den Nomminierten der Longlist des Deutschen Buchpreises, wie auch bereits Schutzzone 2019. Die Jury bescheinigt ihr virtuoses Erzählen und ich schließe mich gerne an. Schutzzone habe ich seinerzeit gelesen, gerne verlinke ich an dieser Stelle nochmal meinen Beitrag dazu, erinnere das mich dieser Roman gleichermaßen sprachlich beeindruckt und angestrengt hat. Ihr aktueller ist ihr für mein Dafürhalten ein gutes Stück weit einfühlsamer und als echtes Zeitgemälde gelungen. Was sich noch dazu sehr gut lesen oder auch hören lässt.

Noch bis 27. Dezember 2024 ist in der ARD Audiothek die Hörbuchfassung von Reichskanzlerplatz gelesen von Cédric Cavator kostenlos online streambar. Es liest Cédric Cavatore. Die aus männlicher Sicht erzählte Geschichte erhält durch sein Vorlesen stimmlich wunderbar Kontur. Von mir gibt es daher daher eine Empfehlung für das Hören der Produktion von hr2-kultur, NDR kultur und DAV. 

Die Quandts. Reichste Familie Deutschlands, Hauptaktionäre von u.a. BMW, über diesem Reichtum liegt der Schatten der Zwangsarbeit und die politische Gesinnung des Patriarchen Günther Quandt, dem Ex-Mann Magda Quandts. Auch das thematisiert Bossong, die intensiver in der Zeit bleibt in der Magda noch nicht Magda Goebbels war. So kann sie ihr für mich besser nachspüren und die Frage “was hat diese Frau zu einer solchen Fanatikerin werden lassen”?.

Für mich könnte niemand die Idee des Romans besser transportieren und Magda spiegeln, als ihr Erzähler Hans Kesselbach. Der so zögerlich, so feige irgendwie und auch so nachdenklich wirkt. Nora Bossong lässt ihn, den Diplomaten davonkommen und uns Lesenden pflanzt sie die Frage ein, “wärd ihr mutiger gewesen angesichts dieser Finsternis”. So clever, wie mein Lieblingssatz, den ganzen Roman trägt. So ungemein mehrdeutig und die unterschiedlichsten Lesarten zulassend.

Noch bis 27. Dezember 2024 ist in der ARD Audiothek die Hörbuchfassung von Reichskanzlerplatz gelesen von Cédric Cavator kostenlos online streambar. Es liest Cédric Cavatore. Die aus männlicher Sicht erzählte Geschichte erhält durch sein Vorlesen stimmlich wunderbar Kontur. Von mir gibt es daher daher eine Empfehlung für das Hören der Produktion von hr2-kultur, NDR kultur und DAV. 

Die Quandts. Reichste Familie Deutschlands, Hauptaktionäre von u.a. BMW, über diesem Reichtum liegt der Schatten der Zwangsarbeit und die politische Gesinnung des Patriarchen Günther Quandt, dem Ex-Mann Magda Quandts. Auch das thematisiert Bossong, die intensiver in der Zeit bleibt in der Magda noch nicht Magda Goebbels war. So kann sie ihr für mich besser nachspüren und die Frage “was hat diese Frau zu einer solchen Fanatikerin werden lassen”?.

Für mich könnte niemand die Idee des Romans besser transportieren und Magda spiegeln, als ihr Erzähler Hans Kesselbach. Der so zögerlich, so feige irgendwie und auch so nachdenklich wirkt. Nora Bossong lässt ihn, den Diplomaten davonkommen und uns Lesenden pflanzt sie die Frage ein, “wärd ihr mutiger gewesen angesichts dieser Finsternis”. So clever, wie mein Lieblingssatz, den ganzen Roman trägt. So ungemein mehrdeutig ist er und die unterschiedlichsten Lesarten zulassend.

“Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr.”
 

Ein letztes Mal begegnet Hans Magda, da ist das Dritte Reich weit vorgedrungen, besucht sie in einem Sanatorium. Mit einer Mischung aus Faszination und Ablehnung betrachtet er die Wohlstandsmehrung der Familie Quandt mit Abstand, die Bedingungen, die Grausamkeit. Stellt seinen Beruf in Frage. Sucht Schutz.

Wer war diese Frau, die vollends von der nationalsozialistischen Ideologie erfasst wurde? Diese Frage würden wir nur zu gerne beantwortet haben. Ob das überhaupt geht, frage ich mich und kann gut annehmen, dass sie bei Bossong so kühl im Schatten bleibt und Schatten gab es in dieser Zeit genug. Von ihr, der Zeit des Nationalsozialismus, davon wie zerbrechlich eine Demokratie ist und wie leicht ins Wanken zu bringen, erzählt Nora Bossong mehr denn über Magda Goebbels als Person.

Wer den Roman durch diese Brille liest, wird nicht vermissen, dass die Frage “wer war Magda Goebbels” ein Stück weit offen bleibt, er wird ihn mögen so wie ich, weil er mit einer kühlen Eleganz zu erzählen vermag, was die Dunkelheit dieser Zeit so gekonnt einfängt. Wie könnte er auch nicht weniger prall gefüllt sein mit Leben und Gefahr, bietet doch allein die Vita von Magda Goebbels so viel Raum für Fiktion und Bossong versteht ihn perfekt für sich und ihren Roman zu nutzen. Großartig.

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