Okay, ich gestehe. Das war ein Coverkauf. Von überall her sprang er mich seinerzeit an, der Erstling dieser Autorin: Identitti. Warum steht er noch immer ungelesen in meinem Regal? Keine Ahnung. Warum entscheide ich mich nach einem Interview mit ihr und Denis Scheck, im Rahmen der Frankfurter Buchmesse, ihren aktuellen Roman zuerst zu lesen? Weil es um sie, ihn und um Indien zugleich geht: Dame Agatha Christie und um Gandhi. Um seinen Gegenspieler auch, um eine körperlose Zeitreise, das India House und den Tod der Queen. Um ein Figurenfeuerwerk und das von einer umwerfenden Autorin, so war es für mich, als ich sie von ihrer Geschichte habe reden hören. Umwerfend.
Antichristie von Mithu Sanyal
Durga Chatterjee wirft indes der Tod ihrer Mutter um. Mehr als sie denkt und fühlt. Die Trauer arbeitet in ihr. In ihrem Untergrund. Alles beginnt mit der Beerdigung von Durgas Mutter Lila, respektive mit ihrer Verstreuung. Die Asche einer Toten nicht gegen den Wind zu werfen, empfiehlt sich nicht nur in indischen Sprichwörtern. Umstehende haben sie sonst im Gesicht. In diesem Fall ist das so und es geht gleich gut los.
Mit Friedhofszwang, einem liberalen Krematorium, Asche-Streuwiesen, Mitternachtskindern, der indischen Unabhängigkeit und britischem Humor (nicht englischem). Was wichtig ist, denn Durgas Mann ist Schotte, also Brite, nicht Engländer.
Wir erfahren, Lila, ihre Mutter hat die Familie verlassen, da war Durga vierzehn. Um ein Haar ohne einen Abschied, dafür voll mit revolutionären Ideen. Viel Porzellan war zerbrochen, bevor die Ehe der Eltern brach, auch das Gute, das Bunte. Das von Villeroy und Boch.
Kurz nach Lilas Beerdigung titelt die Daily Mail, nach Roald Dahl und Ian Flemming, soll jetzt auch Dame Agatha Christie der Cancel-Culture zum Opfer fallen. Durga ist gerade unterwegs aus Deutschland nach London, eingeladen zur einer Autorengruppe. Die Christies Verfilmungen galt es zu bereinigen. Mehr Diversität bei der Rollenbesetzung täte gut. So einfach ist das und auch so schwer. Das Ding ist nur, die antirassistische Neuverfilmung ihrer Werke, die fraglos Klassiker sind, scheint niemand zu wollen, nach dem Tod ihrer Königin durfte doch jetzt nicht auch noch ihre Queen of Crime dran glauben? Andererseits gibt es nicht nur trauernde Stimmen in Bezug auf die Queen. Die koloniale Vergangenheit des Empires schwabt an die Oberfläche, aus Afrika und Indien melden sich Verbände und Opferangehörige zu Wort.
Es kommt auch hier, wie es immer kommen muss. Im Lauf der Dinge brüten Durga und ihre Autorengruppe als bald über einem ersten passenden “woken” Drehbuch zu Dame Agatha.
Mord im Orientexpress, Tod auf dem Nil, 16:50 Uhr ab Paddington, Der Wachsblumenstrauß, Zehn kleine Negerlein, Pardon – der Titel wurde 2003 bereits geändert zu Und dann gabs keins mehr. Alle stehen auf dem Prüfstand.
Hercule Poirot war doch Belgier? Schreibt Agatha Christie eigentlich irgendwo etwas eindeutig klarstellendes über seine Hautfarbe? Eben. Belgien hatte doch Kolonien, sogar im Kongo. Warum also den Detektiv in einer neuen Verfilmung erneut als weißen Mann besetzen?
Wie konnte man Streichungen bei Christie vornehmen, ohne die Aussage ihrer Texte zu verfälschen? Als Autorin war sie doch eine, die in ihren 74 Romanen nicht rassistisch gewesen war, sondern den Rassismus ihrer Zeit abgebildet hatte.
Erinnert Ihr Euch noch an die Debatte über Michael Ende und Astrid Lindgren, als Pädagogen in Deutschland forderten ihre Geschichten über Jim Knopf und Pippi Langstrumpf sollten für den Einsatz in deutschen Kindergärten “gesäubert” oder gar verboten werden?
Erläuternde Vorwörter rücken neuerdings Klassiker gerade, erklären warum im Text beispielsweise das N-Wort noch vorkommt, für mich grenzt das an Leser:innen-Entmündigung und ich frage mich, wie viele Originaltexte mit der Zeit noch verschwinden werden, weil sie nach heutigem Ermessen nicht politisch korrekt genug verfasst sind.
Mithu Sanyal, geboren 1971 in Düsseldorf, wo sie auch heute mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt, studierte deutsche und englische Geschichte und promovierte. 2021 veröffentlichte die Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Autorin ihren Debütroman: Identitti. Drei Jahre später legt sie jetzt nach. Mit einem Krimi à la Agatha Christie, der keiner ist und doch einer ist. Einer Zeitreisegeschichte, inspiriert von der wohl berühmtesten WG der Geschichte, die so berühmt ist, dass sie keiner kennt, meint Sanyal im Gespräch: Dem India House, in der Cromwell Avenue in Highgate, im Norden Londons. Hier lebten zwischen 1905 und 1910 unter der Schirmherrschaft des Anwalts Shyamji Krishna Varma indische Studenten, mit einem Hochschulstipendium für Großbritannien.
Drehbuchanweisungen, Szenenbeschreibungen, eine Erscheinung, die ihrer Mutter, die seit einer Woche tot war. Am Ende einer Gasse. Eine Whats-App-Nachricht aus dem Jenseits? Ein Heimweg, eine Sonnenuhr. Grelles Licht und schwere Beine, und dann ist alles anders. Durga fällt durch einen Riss in der Zeit und in einen neuen Körper. Sie ist jetzt ein junger Mann. Mit allem Drum und Dran. Landet im Jahr 1906, einhundertsechzehn Jahre jenseits ihrer eigenen Zeit. In London. Mittellos und mehr als irritiert.
Ab jetzt wird es schräg und es gibt Szenen, die hätte ich durchaus so nicht gebraucht. Eine davon ist die, die man nur hassen oder feiern kann: Durga, die jetzt einen Penis hat, entdeckt sich und legt Hand an.
Auftritt Sherlock Holmes. Reale und Kunstfiguren vermischen sich in Mithu Sanyals Kosmos. Was erfrischend und überraschend und kurios ist.
Sprachgewandt und fantasievoll. Mit einem Augenzwinkern. Reich an Details. Kommt dieser Roman wie eine Wundertüte daher. Virtuos erzählt und irgendwie unstoppable, Genre-Grenzen sind etwas für die anderen, nicht für Mithu Sanyal. Wie leichtfüßig sie sich darüber hinwegsetzt, das habe ich sehr gemocht. Inhaltlich erwartet ihre Lesenden eine derart kuriose Vielfalt, da musste Frau, also ich, zwischendurch die Luft anhalten. Namen sortieren und einordnen. Googeln. Sie ergänzt historische Figuren und Fakten um solche die fiktiv sind, damit aus ihren Puzzleteilen ein Bild wird. Das erfordert etwas Geduld und Konzentration, aber es lohnt sich.
Wie Sanyal die britische Vorherrschaft in Indien und indisches Freiheitsbestreben mit ihrer sehr modernen Erzählart unter einen Deckel bringt, dabei immer wieder historische Gräuel des Empire anführt und mit Indiens Vergangenheit nur einen Wimpernschlag von ihrem aktuellen Romangeschehen entfernt bleibt, fand ich ganz groß. Sie zeigt mir, wie wenig ich doch im Grunde über Indiens Geschichte weiß.
Saynal schickt ihre Hauptfigur auf eine Zeitreise, wo sie den Held:innen ihrer Mutter aus Indiens Freiheitskampf leibhaftig begegnet. Das fühlt sich an wie eine Reise nicht nur in ihr Innerstes, die Tochter versucht postum die Mutter zu verstehen. Eine Mutter, die ihr Kind größerer Ziele wegen hat stehenlassen.
Wie wird das ausgehen? Wo wird das enden?
Hören kann man diese Geschichte auch, sie als Download erhältlich, umfaßt rund 17 Stunden Hörzeit. Lebendig liest Melika Foroutan, deutsch-iranische Schauspielerin und Hörspielsprecherin, geboren 1976 in Teheran, ausgezeichnet mit dem hessischen und 2021 mit dem griechischen Filmpreis und damit man bei den zahlreichen Figuren mithalten kann, gibt es ein Pdf-Dokument dazu.
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