Weiße Rentierflechte (Anna Nerkagi)

Gegenwartsliteratur. Lesen wir und sind stolz darauf, beschäftigen wir uns doch so mit den Themen die der Zeitgeist gebietet. Oft aber betrachten wir dabei nur was sich innerhalb der uns bekannten Zivilisationen abspielt. Die Gegenwart aber, eine ganz andere, als die, die wir kennen, spielt sich außerhalb dieser Grenzen ab. Zum Beispiel hier, an den Rändern und im Herzen Sibiriens und bei einem indigenen Volk auf das keine Scheinwerfer gerichtet sind.

Sibirien. Mit diesem Wort verbinden wir Mitteleuropäer zuallerst eisige Kälte und Unwirtlichkeit. Wo leben die Nenzen? Diese Frage hätte ich mir nicht mit Russland oder Sibirien beantwortet. Eher mit Finnland oder Lappland. Nach der russischen Einteilung gehört diese indigene Volksgruppe jedoch mit noch etwa 46.000 Angehörigen zu “den kleinen Völkern des Nordens” und sie repräsentieren, glaubt man einem Wikipedia-Entrag, noch heute am deutlichsten das Kulturareal Sibieren. Eine Gruppe von etwa 1.500 Nenzen, die Waldnenzen, die man auf der schwer zugänglichen westsibirischen Jamal-Halbinsel findet, zählen noch zu den Vollnomanden. Die Nenzen sind zuallerst Rentierhirten, dann Jäger und Fischer, und ziehen mit ihren Herden im Winter durch die südliche Taiga und im wärmeren Sommer durch die Tundra bis zum nördlichen Polarmeer. Bedroht werden ihre Lebensweise und ihre Jagdgründe u.a. durch das Vorrücken und Erschließen weiterer Erdölfelder auf eben der Jamal-Halbinsel.

Der brasilianische Fotograf und Umweltaktivist Sebastião Salgado ist für sein Projekt “Genesis” acht Jahre lang um die Welt gereist, hat seine Eindrücke mit beeindruckenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen festgehalten und er war auch bei den Nenzen. Er begleitete sie durch Schnee und Eis und einige seiner Fotos wurden zur unterstützenden Illustration in dieses aussergewöhnliche Buch eingebunden. Bereits die Buchumschlaggestaltung, auch dieses Foto stammt von Salgado und die gigantische Rentierherde, die das Buch darunter einhüllt erinnert an ein Wimmelbild, man weiß gar nicht wo zu erst hinschauen bis das Auge Ruhe findet und ein eisiger Wind weht mich bereits beim Aufblättern an …

Anna Pawlowna Nerkagi (Foto in der Collage oben links), geboren 1951 in der Baidarata-Tundra in Nordwestsibirien wurde im Alter von sechs Jahren durch die sowjetischen Behörden von ihren Eltern getrennt. Sie lebte und bekam ihre schulische Ausbildung nach der Trennung in einem Internat, studierte bis 1972 Erkundungsgeologie in Tjumen. Die Nenzin debütierte 1977 als Autorin, sie schreibt in russischer Sprache vom Goldenen Wort der Wahrheit, vom Raunen in alten Bäumen, von uralten Zeiten und gebrochenen Herzen. Allen Versuchen der Sowjets die Nenzen von ihrer Lebensweise zu entfremden widerstand sie und kehrte 1980, im Alter von dreißig Jahren, zur ursprünglichen Lebensweise ihrer Vorfahren zurück.1990 gründete sie in der Tundra eine Schule für Nenzen-Kinder, wo sie auch selbst ausbildet.

“Weiße Rentierflechte” ist die erste Veröffentlichung einer nenzischen Autorin im deutschsprachigen Raum und übersetzt hat sie Rolf Junghanns aus dem Russischen, grandios und den wunderbar poetisch-naturphilosophischen Ton Nerkagis behutsam erhaltend. Ich bin schockverliebt und glaube, in diesem Jahr wird es schwer für mich, noch einmal eine Geschichte zu finden, die mich so berührt wie diese.

“Die ganz lauten und die ganz leisen Worte – sie sind alle leer. Es gibt kein einziges Wort, mit dem man die Liebe ausdrücken kann. Worte sind Staub. Wenn die Menschen mehr schweigen würden – gut und wie lange würden sie dann lieben?”

Zitat Anna Nerkagi Weiße Rentierflechte

Weiße Rentierflechte von Anna Nerkagi

mit Fotos von Sebastião Salgado 

Eine Hochzeit, die sich wie eine Beerdigung anfühlt. Aljoschka ist jetzt 26 und soll heiraten. Weil es an der Zeit ist. Wollen tut er es aber nicht. Weil sein Herz gehört einer anderen, seit vielen Jahren schon, sie hatten sich einander versprochen, damals. Ohne Worte, im Internat. Das Sagen aber haben jetzt seine Mutter und der Brauch. Beide erwarten Enkelkinder. Wollen ihn seine Rolle wahrnehmen sehen. Als Mann. Aber Aljoschka entzieht sich. Seiner Frau und den ihm auferlegten Pflichten. In stiller Rebellion.

Der alte Petko hat seine Frau verloren. Wanu, ein Freund hat ihn danach in sein “Tschum”, sein Zelt aufgenommen, denn Petkos Tochter ging fort, nicht einmal zur Beisetzung der Mutter war sie hier. Sie hatte ihrem Leben, der Kargheit den Rücken gekehrt, ihn verletzt. Auf die Tochter von Petko wartet auch Aljoschka. Nach sieben Jahren immer noch. Jahr um Jahr. Sommer um Sommer. Vergebens. Sie ist es, das Mädchen dem sein Herz gehört. Beide Männer leben Seite an Seite in dieser kleinen Gemeinschaft unter hunderten von Rentieren und ein jeder kämpft mit seinen Dämonen …

Die Entbehrungen und Unbillen, die diese Menschen aushalten kann ich mir nicht vorstellen. Alles Lebende hat ein gemeinsames Schicksal, sagt Nerkagi und lässt Mensch und Wolf in ihrer Novelle gleichermaßen Hunger leiden. Dieses Leben ist mir so fremd wie mir nur ein Leben fremd sein kann und doch kommt es mir mittels ihrer Schilderungen so nahe, das ich mitfühlen kann. So nahe es geht, von meinem zivilisierten, im Winter gut beheizten Zuhause aus betrachtet. 

“Die Augen ermatteten schnell. Er schloss sie. Den Himmel zu betrachten ist so, als wollte man versuchen, etwas vom morgigen Tag zu erspähen.”

Textzitat Anna Nerkagi Weiße Rentierflecht

Sprachlich hat mich Anna Nergaki ungemein begeistert, aufgewühlt und nachdenklich gemacht. Ihr Ton, die vergleichenden Bilder die sie einsetzt, die Lebensklugheit die sie klar und poetisch aus ihren Sätzen strahlen lässt ist wunderbar. Dies ist eine Geschichte von Liebe und Naturverbundenheit, von Einfachheit und von einer Kultur, die ich jetzt ein wenig besser verstehe. Es ist eine Liebesgeschichte, eine zarte, ganz eigene, eine die von unerwiderter Liebe handelt. Aber auch von einer erfüllenden. 

Nerkagi erzählt mir lyrisch von der Beseeltheit der Dinge, von allem was heilig ist und von Schneesturmnächten. Von Sehnsucht und Hoffnung, von Verlust und Einsicht. Die Poesie liegt hier in der Klarheit. Sie erzählt mit großer Kunst, und ich stelle mir vor wie eine Welt zerfällt, bedroht von vermeintlicher Modernität und durch das was der Fortschritt fordert. Urbanität heißt der Zauberstab, der das Leben der Nenzen immer mehr verschwinden lässt. Nur noch wenige leben heute nomadisch. Sie erzählt davon, wie viel die Liebe wert ist und dass man sich entscheiden muss, immer und immer wieder, will man seinen Weg finden und gehen. In ihrer Geschichte von Kränkung, von Einsamkeit, von solcher die man auch in Gesellschaft, unter Freunden spürt. Vom Altwerden, vom Sich-Nutzlos-Fühlen, vom Jungsein und von der Liebe.

Keinen ihrer Sätze wollte ich überlesen, im Gegenteil. Oft habe ich zurückgeblättert, um Passagen noch einmal aufzunehmen. Dankbarkeit hat ihr Text in mir ausgelöst, für das was ich haben darf in meinem Leben. Für die Liebe meines Lebens.

Ich lerne wie nebenbei, die Worte eilen an mir vorbei, während ich von Milzbrand, massenhaftem Rentiersterben, von der Urmutter erfahre, die Ernsthaftigkeit dieser Lebensweise beeindruckt mich tief. Diese ortsungebundene Leben, dem das Leuchten eines knisternden, befreiten Feuers Wärme verleiht, der Wechsel der Jahreszeiten und der Glaube an Gemeinschaft seinen Sinn. Das FEUER, Wurzel des Lebens, so groß ist seine Macht über die Menschen hier, es ist ehrfurchtgebietend und wer es hütet, den lehrt es Demut, schenkt es Hoffnung und Zuversicht.

So wurde Nerkagis Geschichte für mich zu einer die bleiben wird. In mir. Jetzt nach dem Lesen rücke ich sie zurecht, auf ihrem Ehrenplatz in meinem Bücherregal. Cover nach vorne, damit ich mich erinnern kann an sie, wann immer ich will. An die vielen Details, an das was bei ihr zwischen den Zeilen steht. Nur für mich.

Was für eine dichte, weise Geschichte. Diese Stimmung, ich höre die Stille, spüre die Last des Schnees und des Alters, die Kraft der Liebe, eine tiefe Ruhe und Demut. Lange habe ich an ihr gelesen, mir jede Sequenz auf der Zunge zergehen lassen und ein Jahreshighlight gefunden! 

Ich wünsche diesem wunderbaren Buch, das es noch viele entdecken mögen, die lernen wollen wie das geht: Leben, nach seinem eigenen inneren Kompass. Lasst Euch ein auf diese grandiose literarische Reise, es lohnt sich so!

“Wenn die Worte aus einem Menschen herausströmen, tragen sie das Gift von Angst, Kränkungen und Zweifel mit sich davon, wie der Sturm mit seiner wilden Kraft tote Blätter, Staub und vertrocknetes Gras mit sich davonreißt, – all das, dessen Zeit vorüber ist, was verblüht und dahingegangen ist.”

Textzitat Anna Nerkagi Weiße Rentierflecht

Mein Dank geht an den Verlag Faber & Faber und die Agentur Kirchner Kommunikation für dieses Rezensionsexemplar.

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    7. Juni 2021

    Liebe Angela,
    hab vielen Dank für Deine Empfehlung, auf diesen Titel hatte ich auch schon ein Auge geworfen. Es freut mich, dass er Dir so gut gefallen hat. Deine Besprechung habe ich gelesen, Deine Begeisterung ist ansteckend. LG von Petra

  2. Literaturgarten
    7. Juni 2021

    Hallo Petra, mit Interesse habe ich Deinen Artikel eben über indigenes Leben verfolgt und Deine Gedanken dazu haben mir gefallen.
    Ich denke, Dir könnte das neue Buch *Die Unbezwingbare* von Katja Kettu auch zusagen. Einen Leseeindruck findest Du auf meinem Blog.

    Herzlich
    Angela vom Literaturgarten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert