Was ich von ihr weiß (Jean-Baptiste Andrea

Wie oft, habe ich schon staunend vor Skulpturen gestanden und mich gefragt, wie ein Stein, starr und kalt von Natur aus, soviel Leben und Wärme abstrahlen kann? Noch heute und es ist jetzt über zwanzig Jahre her, erinnere ich diesen einen Moment. Der Petersdom war noch recht leer, wir waren früh dran an diesem Morgen in Rom und sind an ihr hängen geblieben. An der Pietà von Michelangelo. Maria hält ihren toten Sohn und Michelangelo ihr Gefühl fest. Meißelte es so in Stein, dass es unvergänglich ist, das einem der Atem stockt. Ein Rätsel ist es mir, wie das gelingen kann. Was für eine Gabe! Einem leblosen Material Leben einhauchen zu können.

Das sah am 21. Mai 1972 jemand anders. Ein Attentäter schlug mit dem Hammer auf Michelangelos Pietà ein. Brach ihr einen Arm, die Nase. Behauptete Jesu zu sein und zu wissen, dass Gott keine Mutter haben könne.

Was für eine Geschichte. Eine die das Leben schrieb und kein Wunder, dass diese hier, die am Rande auch von eben jener Tat erzählt, in Frankreich zum Lieblingsbuch der Buchhändler*innen wurde. Ihr Autor erzählt auch von einer Gabe. Von Michelangelo Vitaliani, den alle Mimo nennen. Bildhauer, Arbeiterkind und von Viola, der Jüngsten der Orsinis, Aristokratin, Träumerin, Querdenkerin. Er erzählt vom Kampf der beiden gegen Vorurteile und Konventionen und für ihre Ziele, zur Zeit des Faschismus in Italien.

Thomas Brovot hat im Deutschen einen Ton gefunden, der mich, vor allem anderen und aus dem Stand für diesen Roman eingenommen hat. Poetisch und bildhaft reiht sich Satz an Satz. Einer schöner als der andere, klingen sie wunderbar ausbalanciert und stimmungsvoll nach. Aber ich greife vor, fangen wir doch am Anfang an …

Erst heute kann ich ermessen, was die Schönheit des Tages der ahnenden Nacht verdankt.” Textzitat

Was ich von ihr weiß von Jean-Baptiste Andrea

In einem Kloster liegt ein Zweiundachtzigjähriger Mann im Fieber und im Sterben. Er ist keiner von ihnen, kein Mönch und doch durfte er bleiben. Vierzig Jahre lang lebte er in ihren Reihen. Geboren 1904 in Frankreich, seine Eltern waren fünfzehn Jahre zuvor aus Ligurien zugewandert und suchten noch immer nach einem Glück, dass sich nicht finden ließ. Sie blieben Fremde. 

Der Vater, ein Steinmetz mit eigener Werkstatt, restaurierte Wasserspeier, baute Brunnen und fiel auf Seiten der Franzosen im Ersten Weltkrieg. Sein Sohn, unser Erzähler, sollte auch Bildhauer werden. Die Mutter entschied das für ihn und schickte ihn alleine nach Italien. Zurück in die Heimat. Sie selbst wollte alsbald folgen und würde am Ende Jahrzehnte dafür brauchen. Im Gepäck hatte der damals Zwölfjährige, die gesamten Ersparnisse der Eltern und seinen Vornamen, der ihm unter die Arme greifen sollte, dabei war er eher ein Päckchen für ihn, dass er zu tragen hatte, von Anfang an. Michelangelo, so hieß man nicht, wenn man ein Zwerg war. Denn als einen solchen sah man ihn an, er war kleinwüchsig und sein Name potenzierte den Hohn der ihm entgegenschlug. Zunächst.

Ein Onkel, Alberto, der nicht sein Onkel war, der dem Großvater aber in der Schuld stand, nahm ihn widerstrebend auf. Wollte ihn nicht als Lehrbub. Für seine kleine Werkstatt in einem Vorort von Turin. Fünfunddreißigjährig und allein lebte dieser harte Mann in einem Zimmer über seinem Geschäft und nutzte Mimo mehr als ein Jahr lang als Sklave aus.

Ich husche in der Geschichte durch die Zeit und als ich sie das erste Mal sehe, im Halbdunkel besuche, in ihrem Verlies, gehöre ich zu den wenigen, es sind nicht mehr als dreißig weltweit, ihren Schöpfer eingeschlossen, die Zugang haben zu diesem Raum. Man hat sie eingeschlossen um sie zu schützen. Seine Skulptur. Aber warum und wovor? 

Als habe er sie beim Träumen ertappt und eingefroren, so steht sie da. Erschaffen aus Stein und Herzblut. Wessen Gesicht trägt sie?

Das von Viola, der Merkwürdigen, von der man sagte, sie sei eine Hexe. Ein Mädchen, das las und studieren wollte. Um fliegen zu können. Unnötig zu erwähnen, dass die Eltern dagegen waren. Eine Männerschule schickte sich nicht und diese Flausen ebenso wenig. Es hatte geheiratet zu werden.

Beweisen wollte Viola Ihnen, was möglich ist und was in ihr steckte. Dann müssten sie. Sie gehen lassen. Zwei Flügel aus Holz sollten helfen, sie tragen, nach einem Sprung in die Tiefe. Im Sommer 1920 kann Viola es immer noch nicht. Das Fliegen und auch ihr Traum eine zweite Marie Curie zu werden, schwindet mehr und mehr …

Im November 1920 zerstreut der Mistral die Nebel. Viola wird sechzehn und Mimo, unser junger Bildhauerlehrling, erschafft einen Bären. Als Geschenk für sie. Viola ihrerseits bricht sich den Schädel, die Beine und Rippen und landet im Koma. An ihrem Geburtstag. Stürzt sie sich beflügelt vom Dach ihres Elternhauses.

Nichts zu verlieren. Er hatte nichts zu verlieren dieser Mimo und deshalb hielt er es aus herumgestoßen zu werden. Bettelarm wie er war, in dem Atelier an das in der Onkel, der keiner war nach Violas Sturz verkauft hatte. Man neidete diesem Gnom, wie sie ihn schimpften sein Talent. Es stand ihm nicht zu das zu können was er vermochte. Das Leben in einem Steinblock zu sehen und es aus ihm herauszukitzeln bis seine Hände blutig waren. Florenz wurde zu seiner Lehrmeisterin wieder Willen, nie wieder würde er diese Stadt vergessen können. Als Viola sich erholte und mit ihm brach, wurde Florenz seine Zuflucht. Bis eine unerwartete Erbschaft ihm eine Tür öffnete. Eine, die ihn wieder in die Nähe von Viola und den Orsinis führte …

Jean-Baptiste Andrea, geboren am 4. April 1971 in Saint-German-en-Laye, aufgewachsen in Cannes, studierte in Paris Politik- und Wirtschaftswissenschaften, arbeitete zwanzig Jahre als Drehbuchautor und Regisseur, bevor er sich 2013 aus dem Filmgeschäft zurückzog. Sein Debütroman aus dem Jahr 2017, in Deutschland erschienen unter dem Titel Meine Königin heimste gleich vier Literaturpreise ein. Es folgten 2019 Hundert Millionen Jahre und ein Tag (2019) und Von Teufeln und Heiligen (2021) beide ebenfalls preisausgezeichnet. Dies ist sein vierter und aktuell erfolgreichster Roman. Mehr als 50.000 Exemplare wurden in Frankreich verkauft, bevor er sich den Prix Goncourt im November vor zwei Jahren dafür abholen durfte.

Alle seine Romane wurden von Thomas Brovot ins Deutsche übertragen. Er kennt Andrea und seine Satzbilder mittlerweile genau, zeichnet sie empatisch nach und ich hänge an seinem Haken. Feiere diese Sprache.

Eine Punktabzug vergebe ich für das Cover, das für mich etwas süßlich wirkt und der hoffentlich nicht davon abhält zu dieser opulenten Geschichte zu greifen. Denn es steckt mehr in ihr als der Klappentext und dieses pastellige Motiv verraten.

Mehr als einmal habe ich gegoogelt um zu klären, ob dieser Bildhauer nicht doch gelebt hat. Michelangelo Vitaliani. So lebensecht ist sein Wirken erzählt, sind seine Werke, deren Entstehung geschildert. Seine Auftraggeber, die Orsinis und letztlich der Vatikan, alles ergibt Sinn. Sollte es nicht doch möglich sein in Rom auch seine Pietà zu entdecken?

Ein wunderbarer historischer Schmöker ist das, der mich an Museumsbesuche in Italien erinnert hat, an Rom, Florenz mit seinen zahlreichen Skulpturen, an den Trevi Brunnen und die Zeit in der all das erschaffen wurde.

Der Sommer ist für mich immer auch die Zeit für Zeitreisen und wenn mich ein Roman so wunderbar in das Handwerk der Bildhauerei eintauchen lässt, sich sprachlich so ausgefeilt, so rund und sanft wie polierter Marmor anfühlt. Dann bin ich Feuer und Flamme.

Es hat mir gefallen. So dicht am Meißel zu sein. Mir den Marmorstaub von den Kleidern zu schütteln, am Ende der Geschichte. Voller Bewunderung dafür was da unter steten Schlägen entstanden ist. Am Bett eines Sterbenden, der die Liebe, die er verloren geglaubt im Inneren eines Steins gesucht hat …

In der Hörbuchfassung wechseln sich Anton Guiseppe Arnold und Frank Arnold gekonnt ab. Frank Arnold, Gewinner in der Kategorie »Bester Interpret«, des Deutschenes Hörbuchpreis 2014, tut den herrlich getragen formulierten Sätzen mit seiner sonoren Stimme besonders gut. Lebensprall und opulent, aufgesättigt mit Erinnerungen, atmosphärisch und bildhaft, süffig wie ein italienischer Rotwein ist diese Geschichte eines Künstlerlebens ein herrlicher Urlaubsschmöker.

Ich wünsche allerbeste Unterhaltung und erholsame oder entdeckungsreiche Ferien. Macht was Euch gut tut. Ihr macht das schon richtig!

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