Für viele ist ein Haustier nicht mehr wegzudenken. Da gibt es die Fraktion Katze: Sie lieben die kluge Eigenwilligkeit und Unerziehbarkeit dieser Spezies. Die Fraktion Hund, die in ihrem Begleiter oft einen Freund oder auch Beschützer findet. Der treu und verbunden bleibt. Wieder andere halten sich einen Goldfisch, einen Papagei, bringen ihm unsere Sprache bei. Die Aquaristen geniessen die Buntheit der Unterwasserwelt. Wieder andere lehnen das Zähmen von Tieren ab, zählen in ihrem Garten die Singvögel, Hummeln und Schmetterlinge, sind besorgt über ihre schwindende Vielfalt. Schließen Patenschaften für Wildtiere, erhalten Nachrichten von “ihrer” Giraffe aus Afrika.
“Ob die Welt anders riecht, wenn Unmengen von Vögeln über einen hinwegziehen und lauter winzige Teilchen, die sich in ihrem Gefieder festgesetzt haben, zu Boden schweben?” Textzitat Pizano S.187
Wir sind umgeben von Leben. Von gefiedertem, behaartem, zartem und stachligem Leben. Was geht in all diesen Geschöpfen vor? Wie verhalten wir uns im Umgang mit ihnen? Was sehen sie, wenn sie uns ansehen? Wenn sie hoch über den Dingen schweben? Die Spatzen und die Adler? Was die Hunde und Katzen, die mit uns ein Zuhause teilen? Die Perspektive müsste man wechseln können, vielleicht wäre es dann leichter zu sehen. Leichter zu verstehen.
María Ospina Pizano, geboren 1977 in Bogotá, Kolumbien, tut genau das. Sie setzt eine andere Brille auf. Pizano hat Kulturwissenschaft und Geschichte studiert, lehrt heute Spanisch und Lateinamerikastudien an der Wesleyan University in Conneticut und schreibt. Mit Erfolg. Für kurze Zeit nur hier ist ihr Debütroman und wurde mit dem Premio Sor Juana Inés de la Cruz ausgezeichnet. Ein Preis, der jährlich auf der Internationalen Buchmesse in Gudalajara, Mexiko für einen Roman in spanischer Sprache verliehen wird. Dem Sieger winken ein Preisgeld und eine Übersetzung ins Englische.
„Es kostet Kraft, dem Auf und Ab der Bergwälder zu folgen, die immer höher hinaufreichen. Wer weiß, woher er den Mut nimmt, das Rückgrat einer Gegend zu erklimmen, die sich auffaltet, plötzlich absinkt, dann wölbt, dann zusammenzieht.“ Textzitat Pizano S.71
Für kurze Zeit nur hier von María Ospina Pizano
Flatternd, schwebend, flirrend und sich verbindend. Diese Autorin betrachtet den amerikanischen Kontinent als Organismus. Setzt sich über Grenzen hinweg. Über körperliche und überspringt mühelos die Mauern, die es in Köpfen gibt. Sie erkennt Verbindungen, Zusammenhänge, wo uns die Aufmerksamkeit fehlt und erschafft so einen ganz besonderen literarischen Schatz. Einen, den wieder einmal der Schweizer Unionsverlag gehoben hat und bei dem ich mich ganz herzlich für dieses Besprechungsexemplar bedanke.
Einen Schatz, den der Berliner Lektor und Übersetzer Peter Kultzen für uns aus dem Spanischen übertragen hat. Kultzen mischt in seiner Übertragung klare mit poetischen Tönen, die so entstehenden Bilder schattieren den Text vielfarbig, sanft und facettenreich.
Voller Empathie betrachtet María Ospina Pizano alles Leben. Wechselt den Blick, schaut auf uns Menschen, auf koloniales Erbe, ergänzt zahlreiche Zitate von Literaten und eines aus dem 15. Jahrhundert. Von Nezahualcóyotl, dem der Titel ihres Romans entliehen ist.
Sie erzählt von innen nach außen. Lässt uns dadurch teilhaben an außergewöhnlichen Perspektiven. Zum Beispiel an der eines Scharlachkardinals, der aus großer Höhe auf Menschen, Städte, Flüsse, Wälder und Seen schaut. Auf Balkongärtner und Vogelkundler. Wie sieht ein Scharlachkardinal eigentlich aus, habe ich mich gefragt, als ich mir seinen Blickwinkel hier erlesen habe und losgegoogelt.
Man ist verblüfft, will lernen, weitergleiten durch diesen Text. Innehalten und genießen, die Natur als Protagonistin feiern. Der Erschöpfung von Zugvögeln von nachspüren. Das tut hier ein Ornithologe.
Machen wir uns eigentlich eine Vorstellung davon, welche Höchstleistung diese Leichtgewichte auf ihren langen Reise in den Süden vollbringen? Besonders die Kleinsten unter ihnen. Welchen Gefahren sie trotzen? Es geschieht unbemerkt über unseren Köpfen, während wir mit unseren Problemen ringen. Wir leben aneinander vorbei dabei teilen wir uns doch diesen Planeten. Der uns ernährt, uns eine Lebensgrundlage schenkt. Alle sind wir nur für kurze Zeit hier.
Fragmentarisch und lose aneinandergereiht, wie eine Sammlung von Erzählungen, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Leben in all seiner Vielfalt ist, hat dieser Roman vieles von einem Kaleidoskop. Er entwickelt eine ganz eigene Poesie durch seine grandiosen Blickwechsel. Zeichnet Bilder von Vogelzügen und Phenomänen, die ich so noch nicht vor Augen hatte. Was für ein augenöffnender, wunderbar besonderer Roman. Der sich wohltuend anders anfühlt und mich regelrecht entrückt hat. Entführt hat nach Südamerika.
Zu Straßenhunden, Käfern, Vögeln, uralten Bäumen und Gottesanbeterinnen, die auf Ästen getarnt ihre Opfer abpassen. Zu Forschenden und Indigenen, Geflohenen, zu auf Pflanzungen versprühtem Gift. Zu Drogenhändlern und vertriebenen Kindern. Zu gewaltigen Strömen. Tukanen und Kolibris, die Glück bringen. Sollen.
Spiegelnde Hochhausfassaden gaukeln Vogelschwärmen Wolken und Himmel vor. Die zerschellen an dieser Illusion. Oder kommen an, nach einem langen Flug und finden ihren einstigen Wald nicht mehr vor. Derweil flieht eine Frau aus der Stadt auf’s Land. Hat Setzlinge im Gepäck. Kämpft für ein Ankommen in einem neuen Zuhause. Geduldig und liebevoll unterstützt und behütet sie, was alleine für sich verloren wäre. Hält Wut aus und Verzweiflung. Verzagtheit und Trauer.
Hoch in die Luft, unter der Erde oder immer mit der Nase am Boden entlag. “Zugunruhe” und eine grenzenlose, aber gefahrvolle Freiheit erwarten Euch hier und nichts weniger als das. Im Gegenteil, die Fülle, die María Ospina Pizano literarisch vor uns ausbreitet ist überbordend. Man schwelgt in ihr. Die Augen vor Staunen weit geöffnet. Während Pizanos Erzählstimme über dem Geschehen schwebt.
Sie fühlt mit, schaut in die Zukunft, sieht das Werdende, bewegt mich. Erzeugt Bilder in mir, die eine ganz eigene, teils schmerzhaft schöne Poesie entfalten. So habe ich noch nicht gelesen!
Diese Autorin versteht es, dass ich mich als Teil eines großen Ganzen fühle, innerlich einen Schritt zurücktrete und verstehe. Wie zerbrechlich alles Leben im Grunde ist. Was wir in der Natur mit unserem Tun bewirken. Wie Lebensräume sich verändern. Was wir Tieren antun, auch durch Nichtstun. Durch die Rodung von Regenwäldern und exzessive Landwirtschaft, durch brutale Abholzung um unseren Hunger nach Holz und billigen Möbeln zu stillen.
Was für eine Geschichte! Sie endet wo sie beginnt, zeigt auf was durch Geduld, ein treues Herz, durch Liebe und Empathie möglich ist. Möglich wird. Führt zusammen, was zusammen gehört. Nennen wir es Schicksal. Was es vielleicht ist.
Was für ein Roman! Überraschend, tragisch und zärtlich zugleich. Seine Held.innen – so flüchtig wie ein Lufthauch. Seine Botschaft so eindringlich, dass sie mir bleiben wird. Was ich mich freue, dass er mich gefunden hat.
Alle Fans des Nature Writing, aufgemerkt, dieser Text kann mehr. Mehr als Euch durch Naturbeschreibungen begeistern und wenn Ihr Euch nicht vorseht, wird er Euer Herz im Sturm erobern. So wie meins.
Lange werde ich diese Bilder vor meinem inneren Auge sehen. Da bin ich sicher. So sicher, wie ich diese Autorin im Blick behalten werde. Weil ich gespannt bin, auf das was sie noch sehen wird. Auf das, was mir bislang entgangen ist. Darauf, wie sie uns dann davon erzählen wird.
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