Fay (Larry Brown)

Samstag, 20.07.2019

Abhauen. Sein Bündel packen. Jetzt. Einfach so. Ohne weiter darüber nachzudenken. Wer von Euch hat nicht schon einmal, als Teenager vielleicht, nach Zoff und Zank mit Eltern oder Geschwistern daran gedacht? Die Heldin dieser Geschichte hier, macht Ernst. Haut ab, das weil es in ihrem Elternhaus nicht nur um einen banalen Streit geht, um eine Taschengeldsperre, Hausarrest oder so.  

Bei Fay geht es um Kinderarbeit, um Hunger, um Unterversorgung, um einen brutalen, übergriffigen Vater, um eine wehrlose Mutter und um den Traum, den man mit siebzehn hat, von einem besseren Leben, das da draußen doch irgendwo auf einen warten muss. Und wir, wir Leser, kleben fortan wie die Kletten an ihrem Hosensaum, an ihren kaputten Turnschuhen.

Wir sind mit Fay zu Fuß unterwegs, durch ihre Tage, ihre Nächte, berühren mit ihr die Leben anderer, mal flüchtig, wie mit Fingerspitzen streichelnd, mal intensiv zupackend. Auf der Suche nach einem Schlusspunkt und nach einem neuen Anfang …

Auf dem Weidezaun drängten sich die Bäume auf Inseln ihres eigenen Schattens, und ein heißer Wind wiegte das Gras zu ihren Füßen. Schon nach zwei Stunden warf der Beton die Sonnenhitze in ihr Gesicht zurück. Sie hörte das Heulen der Trucks, lange bevor sie da waren, und hielt sich vom Highway fern, um nicht überfahren werden”. (Textzitat)

Fay von Larry Brown

Als sie sich hinsetzte um sich auszuruhen, musste sie etwa eine Stunde zu Fuß unterwegs gewesen sein. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den Sternen über sich auf. Sie würde noch umkehren können, zurück nach Hause, in ihr altes Leben, in die armselige Hütte im Wald. Zu ihrem Vater, der nur allzu gerne die Hand erhob, zu ihrem Bruder, ihrer kleinen Schwester, die sie jetzt schon vermisste. Zu ihrer Mutter, der sie gestern gesagt hatte, sie gehe jetzt und die nichts unternommen hatte um sie zurückzuhalten …

Fay Jones war siebzehn, hübsch aber mager, weil sie hungrig war so lange sie denken konnte. Seit der fünften Klasse hatte sie nicht mehr zu Schule gehen dürfen, musste für den Lebensunterhalt der kleinen Familie mit Sorge tragen. Sie träumte vom Süden, von der Küste, wo es wärmer und besser sein musste. Mit zwei Dollar, ihrer alten Handtasche und Schuhen, durch die man jeden Stein spürte war sie zu Fuß aufgebrochen ohne wirklich zu wissen, ob sie überhaupt in der richtigen Richtung unterwegs war. Aufstehen. Sie musste jetzt weiter, hier konnte sie nicht bleiben, auf offener Straße mitten in der Nacht, schutzlos, nutzlos, sie brauchte einen Schlafplatz und etwas zu essen. Als die Scheinwerfer eines sich verlangsamenden Pick-Ups sie blendeten und drei junge Männer sie johlend ansprachen, schien es, als würde ihre eben erst begonnene Reise hier schon enden …

Sein Kollege sah ihn ernst an während er die Plane vom Gesicht der Frauenleiche entfernte und ihn auf sie herabsehen ließ. Das Zittern seiner Hände konnte er nicht verbergen. Das hier würde eine Mordanklage bedeuten und ihm war klar, wer es getan haben musste, nur nicht wie es dazu hatte kommen können. Selbst im Tod sah sie noch wunderschön aus. Die beiden Kugeln, die in ihr Gesicht eingedrungen waren, hatten nur zwei kleine schwarze Löcher hinterlassen und ihr Gesicht wie marmoriert erstarren lassen …

Larry Brown, geboren 1951. In Oxford/ Mississippi begann der amerikanische Schriftsteller seine Karriere als schreibender Feuerwehrmann. Fünf Romane und etliche Kurzgeschichten verhalfen ihm auch außerhalb der Südstaaten zu Kultstatus, er wurde vielfach ausgezeichnet und sein Werk beeinflusste viele Songwriter. Als er 2004 im November verstarb, erwiesen ihm einige mit dem Tribute Album “Just one more” ihre Ehrerbietung. Fay ist Browns vierter Roman und erstaunlicher Weise der erste, der und das erst im Mai 2017, in deutscher Übersetzung erschienen ist. Am 29.10.2018 wurde sein Roman Joe ins Deutsche übertragen und veröffentlicht, dieser wurde bereits mit Nicolas Cage verfilmt und in dieser Geschichte ist seine Fay eine Nebenfigur.

Brown, angelte und jagte gerne, arbeite am liebsten mit den Händen, sprach auch dem Alkohol eine Zeit lang gehörig zu. Züge die man bei seinen männlichen Figuren in Fay ebenfalls wiederfindet. Wie viel davon ist da wohl autobiographisch habe ich mich gefragt? Klar ist ganz schnell, wenn man das im Nachwort erfahren hat, warum ihm seine Figuren so gut gelungen sind, er schreibt von innen nach außen, muss hier nichts erfinden, hat offenbar vieles selbst erlebt. Auch als Feuerwehrmann viel gesehen, was er hier auf seinen Polizisten Sam überträgt, der bei zahlreichen schweren Verkehrsunfällen Einsätze fliegen muss.

Seine Fay zeichnet er naiv, sexy, lässt Männer ihren Weg kreuzen, die nicht alle gut für sie sind, bei denen aber auch sie ihre Spuren hinterlässt, blutige und tiefe zum Teil. Sie wächst und entfaltet ihre Stärke und Persönlichkeit an jedem von ihnen, das macht den Roman bemerkenswert für mich. Als junges, naives Ding, wird sie wie ein Stück ausgeblutetes Treibholz vom Fluss mitgerissen, durch die Leben anderer gespült, abgestoßen und genährt. Unterwegs wird sie benutzt, verbogen, beeinflusst, zum Äußersten getrieben. Als junge Frau, die genau weiß was sie will, bleibt sie unbeirrt weiter auf ihrem Weg.

Schonungslos, ehrlich und authentisch wirft Brown einen Blick auf die diejenigen, die ein Problem haben, auf die eher einfachen Leute, die Handwerker, die Huren, auf die, die abseits stehen. Das Land ist es, das für ihn die Geschichten formt, die er nur erzählen will. So real, so echt wie möglich. Mit folgendem Satz wird Brown in diesem Zusammenhang auch zitiert:

“Menschen die in Schwierigkeiten sind, sind die, die ich am besten kenne. Mit solchen bin ich aufgewachsen. Und ich glaube fest daran, das du keine Geschichte zu erzählen hast, wenn deine Figur nicht in Schwierigkeiten steckt.” (Zitat Larry Brown, aus Nachwort zu Fay).

Sprachlich ist er eher klar, knapp und kurz gefasst unterwegs, er schwafelt nicht, kommt auf den Punkt, auch auf den wunden, tut uns auch schon mal weh mit seiner Schreibe. Wie geht das, dabei so einfühlsam und eindringlich zu bleiben? So voller Empathie bei seinen Figuren zu sein, sich einen unverstellten Blick auf ihre Verhaltensweisen, Triumphe und Niederlagen zu bewahren, uns seine Leser dabei mitnehmend.

Schuld, Tod, Lügengespinste und eine Leiche zuviel. Der Roman trägt uns tief ins Herzen der Südstaaten. “Hanging Loose” – das viel beschriebene, entspannte Lebensgefühl des amerikanischen Südens ist hier grandios eingefangen. Trotz der Schicksalhaftigkeit der Ereignisse, trotz Drama und Tragik wird der Roman getragen von dieser wunderbaren Grund-Entspanntheit. Das ist stilistisch genial gelöst! 

Mit seinen 652 Seiten inklusive Nachwort ist dieser Roman in meinem Regal lange ungelesen geblieben. Als Geheimtipp des Verlags-Lektorats gehandelt, schlich ich, die vor dicken Büchern mittlerweile etwas Angst hat, seit fast einem Jahr immer wieder um den Titel herum. Ein Buch wie ein Backstein. Wie konnte ich nur? Nur so dahin geflogen sind seine Seiten für mich, atemlos bin ich dem Schicksal von Fay gefolgt.

Bei dem Verlauf dieses Plots könnte man auch von der unvermeidlichen Fügung unglücklicher Umstände sprechen, so geschickt reiht Brown die Ereignisse aneinander, die sich zwangsläufig fügen wie Puzzleteile. Die das Leben seiner Protagonisten zerlegen, als wäre ein Chirurg mit einem Skalpell darin unterwegs. Wir lernen einmal mehr, das man niemanden nie wirklich kennen kann, nicht weiß wozu wer wirklich fähig ist, was ihm oder ihr der Antrieb ist, das zu tun, was er oder sie am Ende Gelände tun.

Das wir alle immer zu wissen glauben, wo unser Leben hinlaufen wird und das wir jederzeit die Kontrolle haben über uns und diejenigen, die bei uns sind auch beschützen können. Wie schnell ein Ereignis einen Kontrollverlust herbeiführen kann, das unser restliches Leben komplett auf den Kopf stellt, ihm einen Drall, eine Richtung gibt, einen Schlingerkurs. Ach, Fay!

Die fabelhafte Übersetzung verdanken wir Thomas Gunkel, der als freier Übersetzer englisch sprachiger Literatur u.a. auch schon Texte von Paul Auster und Richard Yates übertragen hat. Danke dafür!

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