Das Lied des Propheten (Paul Lynch)

Zwei Männer vor ihrer Tür. Ein schwarzes Auto parkt vor dem Haus. Forschende Blicke und keine Zeugen. Sie fragen nach ihrem Mann, in dieser vom Regen schwangeren Nacht. Stellvertretender Generalsekretär der Lehrergewerkschaft Irlands, das ist ihr Mann. Warum sucht ihn mitten in der Nacht die Polizei? Integer, ernsthaft, überlegt und ein liebevoller Familienvater. Das ist ihr Mann auch. Sie verleugnet ihn. Ohne Zögern und er, im Wohnzimmersesel, gibt sich ahnungslos. Spielt den Anlass herunter. Beruhigt sie.

Ein Verhörzimmer. Eine Befragung. Eine Notverordnung. Die der Polizei erweiterte Rechte zum Schutz des Staates zugesteht. Wird erlassen und die Wahrheit verdreht. Eine Anschuldigung mit Folgen ausgesprochen. Die Verfassungsrechte, mit Füßen getreten. Das ist er, der Anfang von allem. Für die Familie von Larry und Eilish Stack. Für ein ganzes Land. Am Rand Europas. Das zusieht. Europa und die Welt sehen zu.

Ostern bei der Schwester in Kanada verbringen? Unmöglich. Die fehlenden Pässe für die Kinder werden verweigert. Ihr Mann gilt schließlich als Staatsgefährder. Das sagen sie ihr. Deutlich. Ein Fest innerhalb der Familie. Man steht auf für die Hymne. Eilish nicht. Mehr.

Die Partei, gewählt vor zwei Jahren. Hat alles verändert. Schleichend irgendwie und doch auch wieder nicht. Die Anzeichen, hätte man sie nicht erkennen müssen? Auch undenkbar schien ist nun das neue normal. Bürgerrechte. Inexistent. Wandel und Reformierung proklamieren sie, in den Firmen, bis in die Spitzen, herrschen jetzt Parteijargon und nationaler Geist. Entlassen wird, wer diesen nicht mitträgt. Herrschaft führt zu Expansion, sagen sie und führen eine vorgezogene Wehrpflicht ein. Mit sechzehn Jahren werden die Jungs jetzt gemustert, aus ihren Klassen geholt in Turnhallen aufgereiht. Darunter auch Eilishs Ältester, Mark. Sie versteckt ihn. Sie verurteilen ihn trotzdem. In Abwesenheit. Wegen Wehrdienstverweigerung. 

So machtlos. So wütend. So hilflos. Alleine ist man das. Gemeinsam aufstehen, das tut jetzt Not. Aber Sie müssen viele sein. Mehr werden. Fünfzigtausend sind es an diesem Tag und Weiß ist ihre Farbe. Die der Reinheit, als Symbol des Widerstands. In der Nacht nach der Demo halten Wenige die Stellung. Die Regierung rückt jetzt vor, es wird scharf geschossen. Die Bilder gehen um die Welt. Mark, ihr Sohn ist nicht nach Hause gekommen.

Paul Lynch, geboren 1977 in Limerick, aufgewachsen in Donegal, lebt heute in Dublin und arbeitet seit 2011 als freiberuflicher Autor. Zuvor schrieb er als Chef-Filmkritiker für die Sunday Times. Lynch ist ein genauer Beobachter und im Detail gibt er wieder, damit wir sehen was er sieht. Die Bilder, die ihr dafür nutzt, wie er sie sprachlich ausmalt, hat mir mehr als gefallen. Das ist nicht zuletzt der Verdienst seines Übersetzers Eike Schönfeld, in Paris lebender Preisträger der Leipziger Buchmesse, der einen wunderbar poetischen Widerhall des Textes im Deutschen erreicht hat. Wie dieser mit dem Inhalt konkurriert, wie er mir das Herz zerreißt, weil er alles nimmt und alles gibt, ist mehr als preiswürdig. Das muss sich auch die Jury des International Booker Prize gedacht haben, die den Roman 2023 zum Sieger erklärt hat.

Paul Lynch erzählt, drastisch und ungeschönt, von einem Staat der sich radikal verändert, der wie aus dem Nichts? restriktiv, gewalttätig und willkürlich agiert. Von einer Heimat, die man nicht mehr wieder erkennt und doch nicht verlassen kann. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Weil in einer Familie einer fehlt und man nicht aufhört auf ihn zu hoffen und zu warten. Erzählt von einem Staatsapparat, der als verlängerten Arm eine Geheimpolizei einsetzt, der Verordnungen erlässt um sich vermeintlich zu schützen. Vor Umstürzlern und den falschen Kräften. Die man ausgerechnet in Gewerkschaftskreisen und unter der Lehrerschaft ausgemacht haben will. Zum selbstständigen Denken und Hinterfragen erziehen ist out, die Lehrer zum Verstummen zu bringen der Hebel.

Erstarkende Gewerkschaften will man zerschlagen. Demonstrationen vereiteln, demokratischen Widerstand ersticken. Einzelschicksale werden als Kollateralschäden gewertet, mit den Drahtziehen muss man ausmerzend beginnen um sein Ziel zu erreichen. 

Liebevolle Familienszenen, zärtliche Umgebungsbeschreibungen, kummervolle Stunden, eine kämpferische Ehefrau und Mutter. Als Larry geht, zu dieser verhängnisvollen Demo aufbricht, zu der 15.000 Lehrer angemeldet sind, als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, ist mir urplötzlich klar, dass Eilish Stack ihren Mann so schnell nicht, wenn überhaupt noch einmal, wiedersehen wird und mir wird eiskalt.

Wie unter einem fremden Himmel. Erlebt sie die Tage danach. Nachdem sie ihn verhaftet und verschleppt haben. Wie verbirgt man seine eigene Besorgnis, wohl wissend das dafür Lügen notwendig sein werden, um die Kinder zu schützen?

Eine Familie, eine Frau am Rand der Katastrophe. Der Staat als Ungeheuer. Internierungslager, ein Wort, ein Schreckgespenst und Gerücht, oder die Wahrheit? Verhaftet aus politischen Gründen. Warum schweigt die Gewerkschaft als Institution? Warum wirken die angerufenen Gerichte wie mundtot?

Eine Rebellenarmee formiert sich. Kampfhubschrauber bedecken den Himmel. Eilishs Vater rutscht weiter ab in die Demenz. Steine fliegen. Das eigene Haus ist kein Schutzraum mehr. Aus dem Krankenhaus verschwindet ein Kind. Ihr Kind.

Wie lange Eilish Stack hofft und ich mit ihr. Wie lange sie verleugnet, wider besseren Wissens. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Wie unerschütterlich sie über die Trümmer steigt um ihren Kindern ein Halt zu sein. Um das Richtige zu tun. Nur, was ist das? Das Richtige?

Diese Hilflosigkeit. Angst und Verzweiflung. Soviel Kampfgeist. Soviel Vermissen. Das Wechselvolle dieser Geschichte lässt mein ohnehin schon zerrissenes Herz bluten.

Der Telegraph nennt Lynchs Roman “Irlands 1984”, was ich nachvollziehen kann und sein Handlungsort ist für mich ebenfalls universell. Gute Literatur muss genau so sein. Dann sorgt sie dafür, dass sich alles in uns überschlägt, das wir unsere Wertekataloge überprüfen und unsere Einstellung. Wenn sie es schafft uns sensibel zu machen, nachdenklich und empfänglich, dann ist viel erreicht und Paul Lynch erreicht viel. Viel mehr als ich erwartet hatte. So rutscht diese Geschichte dann auch ganz weit nach oben auf meiner persönlichen Jahresbestenliste. Um Gold, Silber und Bronze wird sie sich mit zwei anderen noch streiten müssen, als da wären “Trophäe” von Gaea Schöters und (Zufall?!) “Der Stich der Biene” von Paul Murray, der ebenfalls ein irischer Erzähler ist. Ich bin sehr gespannt und erwartungsvoll, ob weitere Titel im Verlaufe dieses Jahres noch mein Siegertreppchen stürmen werden.

Ein Moment des Friedens. Das eigene Haus in Trümmern. Verpasste Gelegenheiten zur Flucht. Die sich auftürmen. Bis es zu spät ist.

Kaja Sesterhenn, ausgebildete Schau- und erfahrene Puppenspielerin, liest uns in atemlosen 8 Stunden und 30 Minuten, diese ungekürzte Hörbuchfassung vor, die am 07.08.24 beim Klett Cotta Verlag, der bereits die Printfassung verlegt hat, als Audio-Download erschienen ist. Lieben Dank an dieser Stelle für das Besprechungsexemplar.

Sesterhenns Stimme klingt mal verwundbar, mal hört man Unglauben, dann wieder Zorn, der sich niederschlägt wie ein Gewitter. Empathisch bleibt sie eng und zugewandt bei Lynchs Figuren und ich glaube ihr jedes Wort. Teile jede Sorge. Empöre mich mit ihr. Lebendig gestaltet sie diese Lesung, warm und freundlich im Ton, ging sie mir tief. Das ist großes Kino für die Ohren! Es gibt Texte, denen gibt eine Hörbuch-Inszenierung nochmals einen mit, diese hier gehört für mich definitiv dazu. Danke dafür, an das Team von Klett Cotta und Danke, Kaja Sesterhenn für Ihr Herzblut! Man spürt es in jeder Silbe! Mir klopft das meine, lädierte, bis zum Hals …

Wie mich diese Sprache berührt hat! Wie sehr ich mich immer wieder in dieser Hauptfigur gespiegelt gesehen habe. Ihr Zögern, ihren Unglauben gefühlt und verstanden habe und doch schreien wollte: Flieht! Weit und schnell! Wie trotz allem Leid, die Kraft zu spüren ist, sich wieder neu für das Leben zu entscheiden.

Mir fehlen passendere Worte diesen Text zu beschreiben. Poetisch? Zu schwach! Emotional? Zu kurz gegriffen! Die eingesetzten Sprachbilder grandios? Das klingt zu abgenutzt. Sie gehen mir durch Mark und Bein. Atemlos und erschüttert klebte ich an dieser Geschichte wie eine Klette. Ihre Struktur, ihr Spannungsbogen, ihr dystopisch gegenwärtiger Ansatz! Der stilistisch großartig ist. Mir gehen die Superlative aus. Lest diesen Roman oder hört ihn so wie ich. Aber tut es. Bitte. Er hat jeden Preis verdient!

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