Wege durch die Spiegel (Mirko Bonné)

Wenn es flattert und flügelt in meinem Garten, weiß ich, hier bin ich richtig. Aufgewachen mit einem Schuppen voller Honigbienen am Haus meiner Großeltern, die später mein Vater erbte und pflegte, versuche ich heute zu pflanzen was ihnen schmeckt. Ein Büfett für sie und ihre schwergewichtigen Verwandten, die Hummeln einzudecken.

Die Bank vor unserem großen Schmetterlingsflieder ist mein Lieblingsplatz im Sommer. Meist beginnt er zu blühen, wenn wenn ich den Lavendel zum ersten Mal zurückschneiden muss und wenn ich dort meinen Tag beginnen und frühstücken kann, will ich meist gar nicht erst wieder aufstehen. Außer, wenn SIE eine Attacke auf mein Brötchen fliegen: Wespen. Nicht schlagen, höre ich dann meinen Papa noch immer rufen, das macht sie nur aggressiv und Zack. Hatten sie mich gestochen. Heftige allergische Reaktion und schmerzhafte Schwellung gab’s obendrauf, was dazu beitrug, dass ich für diese geflügelten Besucher keine Sympathien habe.

Warum also, greife ich nach einem Gedichtband, auf dem ausgerechnet eine Wespe spazieren geht? Was ist das mit mir und den Wespen? Mirko Bonné kann es benennen. Bringt es auf den Punkt. Das mit mir und meiner Angst vor einem Stich.

Er nennt sie fliegendes Feuer, gestreifter Unmut und brummendes Zyankali. Auch wenn die Natur sie als Allesfresser clever eingesetzt haben mag, dass sie ihren Stachel als Waffe gegen Warmblütler mehrfach einsetzen können, ist es das, was so sie angriffslustig macht? So aggressiv? So ganz anders als bei der Biene oder Hummel?

Aber die Frage warum ich nach diesem Gedichtband gegriffen habe, ist noch offen und ich glaube es liegt an Alice. An Alice hinter den Spiegel, im Wunderland, von Lewis Carroll. Diese Geschichte gehört noch immer zu den liebsten Geschichten aus meiner Kindheit und es war der Titel, den Mirko Bonné für seine Verssammlung gewählt hat, nicht die Wespe, der mich gelockt hat. 

Das Spiel mit der Mehrdeutigkeit ist genau mein Ding und jetzt greife ich einmal vor, wenn Sprache so eingesetzt wird wie hier feiere ich was sie in uns auslöst. Die inneren Tsunamis und auch die sanften Wellen, die Macht, die Worte über uns haben, auch die, die unausgesprochen zwischen Sätzen stehen. Besonders sie. Das, was wir zu hören meinen, wenn uns jemand anschweigt.

Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Hamburg. Mehrfach nominiert für den Deutschen Buchpreis, ausgezeichnet mit diversen anderen Preisen, die die Vielfältigkeit seines Schaffens dokumentieren, mit dieser Gedichtsammlung starte ich in sein lyrisches Schreiben. Von seinen Romanen habe ich bislang Seeland, Schneeland gelesen und besprochen und ich war neugierig auf diese Facette, bedanke mich beim Team von Schöffling & Co. für das Besprechungsexemplar und das ich sie entdecken durfte.

Es hat Langgedichte, einige strecken sich über mehrere Seiten, andere sind kurz, halten sich im Zaum, kommen auf den Punkt. Er zieht alle Register, denke ich, der Mirko Bonné, kennt diese Klaviatur des Dichtens gut und nutzt sie. Benennt das Schweigen der Großeltern, beschreibt poetisch wie selektiv ihre Wahrnehmung gewesen ist. Blühende Birnbäume sah man auch im Krieg, aber das was man jüdischen Nachbarn antat. Das nicht.

Manchmal reiht sich absatzlos Satz an Satz. Reimen tut sich nichts zwingend, denn Worte kann man nicht zwingen. Sie leben ein Eigenleben. Immer. Einige haben sich mit verschränkten Armen vor mich hin gestellt und mir den Zugang zu ihnen verwehrt, nicht jeder Vers wollte in mir klingen. Die, die von uralten Pfaden, von einem Schloss, Gespenstern und vom Sommerradau der Zikaden erzählen und der von dem Kind, das uns Furcht erklärt, die mochte ich. Gern.

Der Goldstuhl

Als eine Hand mit acht Fingern
sitzt die Spinne an der Zimmerdecke,
reglos, kopfunter, mit lachendem Scheitel.

Das Kind klettert auf seinen Goldstuhl,
es greift sie, steckt sie sich in die Tasche
und läuft damit in den Garten, den Regen.
Dort erfindet es mit der Spinne Spiele.

Warum hat es so gar keine Angst?
Doch, sagt das Kind, schreckliche.
Angst hab ich vor nichts, das es gibt,
Furcht bloß vor allem, das unsichtbar ist,
dem Wind, dem Herzen und den Gedanken.

Andere Verse titeln “Ein Glas voll Tränen” oder “Eine Regennacht” und erzählen mir von grünen Seen und Seelen, vom Klimpern und Tropfen, vom Licht der Dauer, vom Festhalten. An dir. Vom Wind, der auf einer Tannenbratsche spielt, mit fliegenden Fingern.

So schön, formuliert Mirko Bonné da, dass ich zwei, dreimal lese. Mischt eine Prise Französisch unter das Deutsche, wunderbar rund fügt sich das wie eins. Mühelos und unangestrengt klingt das.

Erste Strophen können sich so gut anfühlen und zu Gedichten gehören, die “Die Flip-Flops” heißen. Modern und gegenwärtig sein. Oder Bilder zeichnen mit wenigen Silben von ganzen Landschaften. Lassen in aller Kürze mein Herz laut klopfen.

Die Brücke wandert über die Schlucht,
Sonne aus Stein, der Himmel
die Zeit, als Zeit war.
L'enfance.

zitiert aus "Die Flip-Flops"

Gedanklich in die Unterwelt hinabsteigen kann man mit Bonné, oder im Gespenster-Intercity von Hamburg nach Berlin fahren und mit anderen Augen auf Mecklenburg schauen, Stunden vertun, mit einer Zugfahrt. Dazwischen immer wieder Lavendel. Die Provence. Der Spuk vergessener Bilder. Davon schreibt er auch. Von Skorpionen, der Bedeutung eines Glastisches. Gegen den Uhrzeigersinn und was passiert, wenn man im Sommer Strindberg liest. Er widmet und zitiert. Unglaublich wie viel Verse in ein schmales Buch passen. Welches Auf und Ab. Diese Fülle, die Details, auch die düsteren.

Lyrische Verskunst meint für mich, es hat Muster auf Papier, Worte purzeln in eine neue Form. Bilden Bäuche aus, Wellen, Zacken, Figuren. Wie geht das? Bonné zeigt es mir.

Mit Ordnungsnummern versehen zeigt er seine Wege durch die Spiegel auf. Da sind Tot, Pest, Vergessen, Schatten und Einsamkeit. Das fordert, ich grüble, hänge diesen Passagen nach, verstehe sie anders, verstehe sie nicht, mag es, während Stille zersplittert und Sommer sich ins Vergessen krallt. Verharre unter Rosen oder im Herzgebüsch, feiere diese Wortschöpfungen still nur für mich. Lese dann laut, das mache ich manchmal. Mit Gedichten oft, weil sie dann anders klingen. Man, ich, sie dann im Bauch spüren kann.

Ein Spiegel zeigt nicht nur das, was man sehen will. Im Gegenteil. Wer ehrlich hineinsieht, erkennt auch Schwächen. Liebt sie vielleicht. Oder hasst was er sieht.

Ein gutes Gedicht ist wie ein Spiegel. Man liest hinein und wird gesehen und die Dichtung, ja die Dichtung …

LIED AUS ALLEM
Die Dichtung/ zieht sich zurück / tarnt sich versteckt
in ihrem Hinterhalt / aus Widerstand / und Hoffnung
Kein Schuss / kein Schrei/ nicht mal ein Spatz
Der Offenheit/ der Dichtung / entgeht nichts

Auch du nicht / Lies oder nicht / Sie liest dich
Die Dichtung / hat ausgedient / ist frei ist frei
Die Theorien / behaltet sie / Die Dichtung ist
Gedicht / Lied aus allem / das sich selbst singt

***Quellenverweis: Alle in diesem Beitrag unterlegten Zitaten stammen von Mirko Bonné und aus dieser Gedichtsammlung.

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