Löwenkopf, Ziegenkörper und Drachenschwanz. In der griechischen Mythologie nannte man dieses Mischwesen “Chimäre”. Das man so im übertragenen Sinn auch eine Idee nennt die nicht realisierbar ist, ein Hirngespinst, hatte ich bis zu meinem Ausflug ins Internet zu diesem Roman noch nicht gehört. Genausowenig hatte ich den Begriff im Bereich der Botanik auf dem Zettel. Wo dieser ebenfalls ein durchgesetzter ist und man im Falle einer Veredelung von einer Chimäre spricht, wenn aus zwei Pflanzen eine Neue entsteht. Um das Reich der Pflanzen, um eine Insel, auf der sich eine Gemeinschaft aus Lehrenden und Lernenden versammelt hat, die sich dem Artenerhalt und der Artenvielfalt verschrieben haben, soll es auch in dieser Neuerscheinung gehen. Und um einiges mehr noch. Der Roman stammt aus der Feder von:
Sarah Kuratle, geboren 1989 in Bad Ischl, die Germanistik und Philosophie studiert und im August 2021 im Otto Müller Verlag ihren Debütroman Greta und Janis vorgelegt hat, der 2022 prompt auf der Shortlist des Literaturpreises der Deutschen Wirtschaft Text & Sprache landete. Für Chimäre, ich darf mich beim Verlag für das Besprechungsexemplar bedanken, erhielt sie aktuell den Kreationsbeitrag von Pro Helvetia.
Lasst mich mal vorgreifen, mich hat Chimäre überrumpelt und verblüfft. Wo kommt so ein Schreiben her? Dieser Ton. Da musste ich mir Sarah Kuratles Debüt direkt hinterher bestellen, jetzt bin ich sehr gespannt auf Greta und Janis und staune, wieder einmal, welche Vielfalt bei den unabhängigen Verlagen zu finden ist. Habt Ihr Lust auf eine Entdeckungsreise? Auf ein Sprachfeuerwerk? Auf eine Prise Mystik? Auf ein poetisch-dystopisches Szenario? Dann mal los, schnürt Eure Rucksäcke …
Chimäre von Sarah Kuratle
Alois war fort. Wir erfahren, dass er sich nur hier, auf der Insel, diesen Namen gegeben hatte und zurück auf dem Festland, jetzt wieder Alice war. Jung noch, eine Schülerin und allein.
Verloren war für Gregor jetzt nicht nur ihr, Alois alias Alices, Vermögen Pflanzen und Saaten so zu zeichnen, dass man mehr sah als nur ihre Umrisse, ihre klugen Einwürfe und ihre Gabe ihn zu erden, fehlten mehr. Das musste er sich jetzt eingestehen.
Etwas treibt ihn diesen Gregor. Innerlich um. Auch wenn er rein äußerlich wie der behutsame Pflanzenschützer wirkt, der er auch ist. Was ist da noch?
Eine Fremde taucht auf, Tera. Sie nimmt in der Unterkunft den Platz von Alois ein und sich Raum. Nähert sich Gregor an. Spürt, das da etwas in ihm anklopft. Vielleicht lange schon.
Derweil begegnet Alice Max. Begleitet er sie oder sie ihn? Und da sind auch andere Begegnungen. Flüchtige, geträumte?
Da ist Fieber, sind Albträume und Halbsätze. Über die ich stolpere. Sie zunächst für Setzfehler halte. Es fehlen Worte. Dann verstehe ich. Es ist Absicht. Andeutungen einfach so stehen zu lassen. Mich, uns Lesende, herauszufordern, dieses Sprachexperiment mitzugehen. Weil es da so einiges gibt, auf das sich für die Handelnden noch keine Antworten finden lässt. Unverarbeitetes, Traumatisierendes und die Kernfrage danach, wer man sein könnte.
Verwoben und verwickelt scheint es, wenn es um Vergänglichkeit und um das Wachsen zugleich geht. Um das Sterben. Das Überleben. Das Am-Leben-Sein.
Das Cover deutet es schon an. Nichts liegt hier auf der Hand und es geht um nichts weniger als um Alles und mal ehrlich, ist es nicht wunderschön? Die Schrift rankt schwungvoll über den Buchdeckel, schimmert golden auf erdenen Grundtönen. Der Einband verrät schon ein wenig davon was aus und zwischen den Seiten auf uns wartet, aber auch nicht zu viel. Kunstvoll verschränken sich im Inneren die Wörter, zart wie ein Gespinst zu einem Ganzen. Auch das Vorsatzblatt ist durchzogen von feinen Linien, die wirken wie ein Wasserzeichen. Stehen sie für das Element allen Lebens? Denn ohne Wasser gäbe es uns nicht.
“Das Wasser zerbricht, wenn sie schwimmt, es versucht. Wie Eis, aus Glas stürzt es ein unter ihrem Gewicht, ihren falschen Bewegungen. Scherben am Grund, sie selbst, Bruchstücke.” Textzitat Sarah Kuratle
Zerfallene Brücken über den Fluss. Ein neuer, ein begradigter. Ein Friedhof unter Wasser, die Toten ertrunken beim Bau, am Deich. Seealgengrüne Sehnsucht. Armlange Schildkröten. Träume, in die sich Erinnerungen einnisten, die nicht mehr unterscheidbar, nicht mehr trennbar sind von den Bildern die nur geträumt zu sein scheinen.
Ein gestohlenes Boot, eine Flucht und eine Nomadin, die strandet. In einem Herbarium kleben jetzt Muschelschalen wo Federstriche sein sollten.
Eine Ahnung beschleicht mich, was da ist mit Gregor und doch, ich kriege es nicht zu fassen.
Ganz wunderbar hält mich Sarah Kuratle in der Schwebe, im Ungewissen. Wirft mir Wassertropfen entgegen, in denen bricht sich das Licht wie in einem Prisma. Licht ist auch ihr Erzählen und sinnlich. Poetisch und phantastisch. Vor meinem inneren Auge entsteht eine Welt aus Wasser und Traumbildern, die mit seltenen Pflanzen und Setzlingen bevölkert sind. Spielt der Schein sein trügerisches Spiel mit mir?
Kurze Kapitel und wechselnde Sichten, die von Alice und Gregor, halten mich. Während beide suchend auf ihrem Weg berührend transparent für mich werden.
Häufig sage ich das nicht, so habe ich noch nicht gelesen. Diese Sätze. So oft nicht ausformuliert. Diese Wortlücken, die ich im Geist fülle und mich erinnere, auch wenn ich nicht gerne Vergleiche ziehe, dieser drängte sich mir auf. Ich denke an Volya Hapeyeva und ihr Samota. Erinnert Ihr meine Besprechung noch? Sie verlegte mich in eine eisige Landschaft, die sie mit Sprachbildern zeichnet, die die Seele streicheln, nach denen man greift und die sich sobald man sie berührt verflüchtigen. Dieses Gefühl nach einer Seifenblase zu tasten hatte ich auch beim Lesen von Sarah Kuratle. So schön. Da braucht es keine einzige Zeile mehr, auch dann nicht, wenn es einen nach einem Nachschlag dürstet. Lieber fängt man noch einmal von vorne an in diesem Text und entdeckt garantiert Neues.
Drum lasst Euch ein auf diesen Text. Der einen zunächst vielleicht zögern lässt. Bis man seinem Drängem nachgibt. Bis man aufhört über jeden Satz nachzudenken und sich seinem Fluss anschließt. Dann wandert man mit weit offenen Sinnen durch seine hängenden Gärten. Ich habe dort die Kaulquappen gezählt und daran denken müssen, wie es war, als ich sie selbst als Kind aus einem See gefischt und in einem Einweckglas auf dem Fahrradgepäckträger nach Hause mitgenommen, sie in ein altes Keramikwaschbecken im Garten eingesetzt und auf ihre Verwandlung zum Frosch gewartet habe. Täglich staunend darüber, wie das gehen kann.
Wie schön, das es Geschichten wie diese gibt, die so viele Lesarten zulassen, die die Kreativität und Sprachkunst feiern. Die nicht nur einem roten Faden nachjagen und linear erzählen. Das findet sich durchaus auch, ist durchbrochen von Gedanken, Wünschen und Träumen. Von solchen, die in die Vergangenheit und die Zukunft deuten. Merci, liebe Sarah, für diese Fülle!
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