Josses Tal (Angelika Rehse)

Wie oft schon haben wir uns das gefragt? Was macht einen Menschen böse? Lässt ihn böses tun? Vor jedem Attentat in einer Schule stehen wir ratlos. Kürzlich noch war der Presse zu entnehmen zwei Mädchen 12 und 13 Jahre alt, haben eine gleichaltrige erstochen. Kindersoldaten werden in Kriege geschickt, unter Drogen gesetzt, trainiert, konditioniert zu töten. Gewalt in Familien lehrt Kinder, das es “normal” ist, sich mit der Faust durchzusetzen, das es Worte nicht braucht, wo man auch Tritte setzen kann. Kinder, die im Krieg aufwachsen, die traumatisiert werden, von und durch Entscheidungen die jenseits ihres Einflusses liegen, wachsen heran und haben manchmal die Wahl. Über die Scherben zu steigen und neu anzufangen. Vielleicht weil ihnen der Zufall zu Hilfe kommt …

“Der Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott wählt, wenn er inkognito bleiben will.”

Albert Schweitzer, deutscher Arzt und Theologe

Josses Tal von Angelika Rehse

2004. Norwegen. “Du bist zu weit gegangen“. Mit diesem Satz begrüßt er sie. Was doppeldeutig beginnt, wird an einigen Stellen so bleiben. Sie war an ihm vorbei gelaufen an dem Mann, der laut ihrer Mutter verantwortlich war für den Tod ihrer Urgroßmutter. Helen taxierte den drahtiger alten Mann, der da vor ihr auf einem Baumstumpf saß. Der sie jetzt fragte, ob sie über Nacht bleiben könne. Denn an einem Tag sei nicht erzählt wofür sie hergekommen war.

Hier lebte er also. Am Rand eines Nationalparks, wie ein Eremit, irgendwo in einem Tal zwischen Oslo und Lillehammer. Diesem Tal hatten sie seinen Namen gegeben. So lange war er schon hier. Mehr als vierzig Jahre. Allein. Josse kam von Josef. Wusste sie. Sonst aber wenig bis nichts und genauso ahnungslos treten wir Leser:innen ihm gegenüber.

Cut und Sprung zurück in der Zeit. Nach 1930.
Josef war da gerade fünf Jahre alt, als der Arzt bei ihm ein geplatztes Trommelfell diagnostizierte. Es war ihm geblieben nach einer Ohrfeige des Großvaters, der sich nicht beherrschen konnte. Wenn es um ihn ging. Seit es ihn gab. Den unehelichen Enkel. Den Unerwünschten.

So stolz war er gewesen auf seine Tochter, die rechte Hand der gnädigen Frau, mit einer Stellung, nicht Anstellung in der Stadt. Zurückkommen hatte sie müssen, mit einem Kind im Bauch und ohne den dazugehörigen Vater. Die Helene.

Es hätte noch alles gut werden können. Damals vor Josefs Geburt, wäre der Pfarrer nicht gewesen. Der hatte Wasser gepredigt und Wein getrunken. Ihn um einen Vater gebracht. Es hatte einen gegeben, der die Mutter trotzdem gewollt hätte und sie ihn. Verdorben hatte er es. Der Scheinheilige und seither gab es statt Brot täglich Schläge fürJosef und Verachtung für sie. Die Beschmutzte, Sitzengelassene.

Angelika Rehse, geboren in Sande / Kreis Friesland, lebt in Bad Salzuflen, legt mit Josses Tal ihren Debütroman vor. Ganz zu Beginn das Lesens von Josses Tal musste ich schon an Monika Helfers Familiengeschichten rund um ihre Bagage denken. Dann immer wieder. Denn harte Zeiten, Ignoranz und Abhängigkeiten prägen auch das Personal von Angelika Rehses Roman. Das ist aber der einzige Vergleich den ich zulasse, denn ihre Geschichte hat es verdient für sich zu stehen und zu wirken.

Mit Wucht und Zärtlichkeit erzählt Angelika Rehse von Josef und es wird einmal mehr deutlich, wie und warum die Saat des Nationalsozialismus so aufgehen konnte. Gesät in jungen Menschen, die ohne Argwohn und mit großer Sehnsucht nach Wertschätzung und Anerkennung wie ein trockener Schwamm diese Ideale aufnehmen konnten. 

Beschützen möchte man Rehses Josef. Vor dem übergriffigen Großvater. Vor dem vermeintlichen Wohltäter Wilhelm. Der ihn für seine Zweck instrumentalisiert und einspannt.

Einer von ihnen. Endlich. In der HJ gibt es kein Standesdenken. Sagt Wilhelm.

Spion in Kinderschuhen, die Notizen zum Anschwärzen versteckt in einem hohlen Baum. Plötzlich gibt es Razzien, Repressalien und Schläge. Der Apotheker musste die öffentliche Latrine reinigen, oder war es der Bäcker? Denn sie gehören zu denen. Die alles haben und alles verderben. Wilhelm nennt sie die Juden.

Die Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin, ein Meer von Fahnen und Josef mittendrin. So der Plan. Dann aber kommt es anders. Sein Mentor Wilhelm trägt jetzt die Uniform der SS, hat Karten für die Tribüne organisiert, ausgerechnet heute hat Josef Fieber und macht eine Entdeckung, die ihm hätte die Augen öffnen können. 

Ab nach Hause und wieder in die Rolle des arglosen Buben schlüpfen um Spion sein zu können. Für Wilhelm. Für Führer und Vaterland. Denn das war er. Ein Spitzel, ein Handlanger und manipuliert, eine Knetfigur in den Händen seines erwachsenen Freundes.

Schuld und Scham. Gut und Böse. Auf zwei Zeitebenen entwickelt Rehse ihre Geschichte. 

Die Kammer, die Kunst und der Krieg. Bücherverbrennung, Zensur, Kampf und neuer Geist. Josef in Berlin als Kind unter Studenten, Wilhelm hat ihn mitgenommen, aus der Schule genommen, weil er findet, hier könne er Dinge lernen über die morgen die Welt spricht. Gänsehautmomente hat Angelika Rehse da eingefangen. Licht fällt auf eine dunkle Stunde der Geschichte.

Seine Mutter stirbt. Es ist die Diphtherie, die sie verfaulen lässt. Zu viele Nächte muss er neben der sterbenden Frau schlafen. Kurz vor dem Ende dann ihr Geständnis. Josef weiß jetzt, wer sein Vater ist und seine Welt gerät nicht nur ins Wanken. Nein, sie wird zerbrechen in tausend Teile …

Arglos bin ich in diesen Roman hineingestolpert. So arglos wie Josef. Gefunden habe ich eine aufwühlende, nachdenklich machende Geschichte, die sich anschleicht wie eine Katze auf leisen Sohlen, dann ihre Krallen ausfährt und mich nicht mehr loslässt. Die spannend bleibt bis zum Schluß und dann schlüssig aufgelöst wird. Es geht um Prägung, falsche Vorbilder, um Macht und Verzagtheit. Um Mut und Verzweiflung. Da muss ich nicht mehr sagen, das ich das sehr mochte. Oder? Ihr kennt mich. Wenn Figuren facettenreich angelegt sind, mich mit auf Zeitreise nehmen, bin ich dabei. Josef und Angelika Rehse machten das ganz famos. Und ich mag dieses Cover, seine Unschärfe seine Grautöne, die Schemenhaftigkeit. Es passt so gut zu dem was sich dahinter verbirgt. Weil es eben das tut, die Wahrheit verbergen. Die Vielschichtigkeit dieser Geschichte, ihre Emotionalität, ihren unaufgeregten, eindringlichen Ton habe ich sehr gefeiert. 

Billdhaft und ungemein stimmig beschreibt diese Autorin nicht nur ihrer Szenerien. Sie gibt ihren Figuren richtig Fleisch an die Knochen. Macht sie nahbar, waschecht, liebens- und/oder hassenswert. Es zerreißt einem buchstäblich das Herz, mitzuerleben was aus ihrer Hauptfigur wird. Als ihm Zweifel kommen, er sie niederringt, als sie seinen Geburtstag vergessen. Seine Familie. Seine Mutter. Da ballen sich meine Fäuste.

“… die Staatsmacht verdrängte Wärme und Wohlwollen, griff kalt und unbarmherzig zu und streute Samen die Josefs sonst so unerschütterlichen Überzeugungen den Nährboden nahmen.

Textzitat Angelika Rehse Josses Tal

Man fragt sich, wie der Kreis sich wohl schließen wird, da betritt sie die Bühne, Else Winkler, die Urgroßmutter von Helen. Und ich beginne zu ahnen was Josef mit ihrem Tod zu tun hat. Werde ich falsch oder richtig liegen? Es ist erst Halbzeit im Roman. Was erwartet mich noch?

Gekonnt hält Angelika Rehse die Spannung, obwohl das hier kein Krimi ist, fühle ich mich wie eine Ermittlerin in Josses Leben. Ich sammle Informationen und folge den Spuren, die Rehse auslegt.

Brigitte Carlsen liest für die vor, die sich für die Hörbuch-Fassung des Pendragon-Verlages entscheiden. Was ich empfehlen kann. Die erfahrene Sprecherin und Moderatorin fängt die Geschichte wunderbar stimmig ein, derweil Angelika Rehse schreibt: Licht und Schatten existieren nur gemeinsam.

Wie recht sie doch hat. Glauben wir ruhig an das Schicksal, es macht uns weniger schuldig. Meint sie auch. Wer sich auf diese Geschichte einlässt erfährt viel davon und vom Mut derer die widerstehen, von der Furcht der Ängstlichen, von Meistern der Manipulation und von einer Bösartigkeit die kein Maß kennt.

Davon, wie sehr Dankbarkeit verpflichtet, wie Zugewandtheit und Geschenke Gefügigkeit verursachen können. Wie empfänglich ein Kinderherz ist, für Liebe und für Hass. Angelika Rehse trifft jeden Nagel, sie braucht dafür keinen Hammer, ihre Worte schlagen eins ums andere ein, in ihrer Geschichte, die so harmlos mit einem Kaninchen beginnt und mit dem Verhängnis einer vermeintlichen Freundschaft ihren Lauf nimmt. Ein bemerkenswerter Roman, den es zu entdecken lohnt. Der einen Zufall, ob göttlich oder nicht, zu einer Fügung werden lässt. Ein Roman, der gegen das Vergessen arbeitet und das ist heute vielleicht wichtiger denn je …

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