Das verlorene Paradies (Abdulrazak Gurnah)

Im vergangenen Jahr ging der Literatur Nobelpreis an einen Schriftsteller, der bis zur Preisverleihung eher nur Insidern bekannt war und auch Verlage und Buchhandel hat die Entscheidung offenbar überrascht, denn von den fünf veröffentlichten Romanen des frischgebackenden Preisträgers war in deutscher Übersetzung erst einmal keiner mehr erhältlich, vielleicht noch antiquarisch. Wer ist dieser Autor, dessen Werk aus dem Handel verschwunden war und der den Nobelpreis verdient?

Abdulrazak Gurnah, geboren am 20. Dezember 1948 auf Sansibar, flüchtete 1968 nach Großbritannien, wo er in Canterbury studierte und 1982 promovierte. Gurnah, dessen Muttersprache Swahili ist, schreibt in englischer Sprache, lehrte bis zu seinem Ruhestand an der University of Kent Englisch und postkoloniale Literatur.

Paradise, so der Originaltitel des hier vorgestellten Romans, erschien erstmals 1994 und war seinerzeit für den Man Booker Prize nominiert, dessen Jury Gurnah 2016 auch selbst angehört hat. Die deutsche Übersetzung von Inge Leipold, die zur Nobelpreisverleihung wieder neu aufgelegt wurde, stammt aus dem Jahr 1996:

Das Verlorene Paradies

Yusuf ist zwölf als er sein zu Hause verlässt. Eine schwere Dürre hatte das Land zu dieser Zeit befallen und der Holzwurm die Veranda seines Elternhauses. Die Würmer waren mit die Einzigen, die noch etwas zu beißen hatten. Yusufs Teller blieb oft leer oder wurde gefüllt mit einer Suppe, die die Mutter aus Knochen kochte, und die er nicht hinunter bekam.

Sein Vater führte erfolglos ein kleines Hotel und hatte Schulden angehäuft, die seinem Sohn zum Verhängnis werden sollten. Onkel Aziz, nennen sie den Kaufmann und Gläubiger, der mit seinen Karawanen die Dürre hinter sich lassen und wie ein Fürst durch die Wälder bis zum weit entfernten Ozean ziehen konnte. Man hofierte ihn bei seinen Besuchen, und auch Yusuf erwartete ihn stets begeistert, denn “der Onkel” ließ vor seinem Aufbruch immer ein Geldstück in seiner Hand zurück.

Jetzt war Yusuf unterwegs mit dem Mann den er seit Jahren Onkel nannte, der Abschied von den Eltern war denkbar knapp ausgefallen und die Mutter hatte ihn nicht einmal umarmt. Unterwegs mit dem Zug bis ans Meer. Ratternd und quietschend hatten sie den Bahnhof verlassen und gefühlt bis zu ihrer Ankunft nicht mehr angehalten …

Yusuf, den sie vom Land in die Stadt katapultieren, findet sich plötzlich inmitten von christlichen Missionaren, afrikanischen Muslimen und indischen Geldverleihern wieder. Wie im Schock verhält er sich seltsam passiv, lässt alles mit sich geschehen, begehrt auch dann nicht auf, als das Heimweh ihn auffrisst und ihm mehr und mehr bewusst wird, das er eine Schönheit besitzt, die Männer und Frauen gleichermaßen anspricht …

Sie nennen ihn “lebender Leichnam”, weil er so dünn ist und kraftlos. Päppeln und lehren ihn mit Kunden umzugehen in des “Onkels” Haus. Die Schulden des Vaters soll er abarbeiten. Jetzt war es ihm klar, dass er vorher nicht mehr nach Hause zurück durfte, wenn überhaupt und der Mann, den er immer bewundert hatte, war streng. Auch mit ihm, dem er so oft zuvor wohlwollend den Kopf getätschelt hatte. Jetzt war er einer seiner “Leibeigenen”, denn ein Leibeigener, ein Sklave, das war Yusuf jetzt …

Wir tauchen ein in eine Zeit, in der die Europäer in Afrika nur zu gerne die Herren gewesen sind. Einen regelrechten Wettlauf veranstalteten sie um die Länder, die alle gleich begehrten. Wir lernen, was Armut und Abhängigkeit in dieser Zeit bedeuten. Eindringlich und gleichzeitig mit distanzierter Sachlichkeit beschreibt Gurnah Yusufs Erlebnisse, macht ihn zur tragenden Figur, lässt uns durch Kinderaugen sehen. Denn ein Kind ist er noch mit seinen zwölf Jahren, als er aufbrechen muss um die Welt von einer anderen Seite zu sehen. Sein Horizont weitet sich dabei ebenso wie der unsere während er Gefährten findet, und wir immer tiefer mit ihm in seine Geschichte vordringen.

Der Garten seines Herrn hat es ihm angetan. Von Anfang an scheint ihm diese Oase wie eine Zuflucht. Spiegel hängen in den Ästen der Bäume. Teiche schimmern glänzend unter Granatapfelbäumen. Nein. Das Paradies ist etwas für die anderen. Gleich ob wir einen botanischen, biblischen oder muslimischen Blick darauf werfen, für Yusuf gibt es so etwas nicht. Verkauft vom Vater an einen Herren, einen Seyyid, einen Meister, keinen Onkel, erwartet ihn die Finsternis im Herzen Afrikas. Sie erreicht der Junge mit einer Handelskarawane und etwa im letzten Drittel des Romans. Die Grundstimmung verdüstert sich, wird dramatisch und brutal. Weitere Figuren schieben sich in das Erzählfeld und lösen Yusuf, der mittlerweile seine Eltern vergessen hat, so wie sie offenbar ihn, zeitweilig als Hauptakteur ab.

Elfenbein und Seide. Schwärme von Stechmücken, blutige Durchfälle, Raub, Mord und Totschlag.
Gefangen, ausgeplündert und verhöhnt. Ihre Absicht friedlich Handel treiben zu wollen wird gründlich missverstanden, zu sehr scheinen sie denen zu ähneln, die kamen um zu stehlen und zu verschleppen …

Zeitlich spielt der Roman Ende des 19. Jahrhunderts. Die Insel Sansibar gehörte seinerzeit zum Interessengebiet der Deutschen in Deutsch-Ostafrika, als damals noch freies Sultanat. Zu dieser Zeit und mit gleichem Vertragsschluss, zwischen dem Vereinten Königreich und dem Deutschen Reich, ging am 1.7.1890 die Insel Helgoland, die seit 1807 zu Britannien gehörte, an Deutschland. Häufig hört man Sansibar wäre gegen Helgoland eingetauscht worden, dabei besaßen die Deutschen diese Insel nie, sondern lediglich einen Streifen Festland gegenüber von Sansibar und sie beanspruchten damals den Status als Schutzmacht der heute zu Tansania gehörenden Insel. Diese Schutzherrschaft trat man im Vertrag von 1890 an die Briten ab. 

Er wirkt ein bisschen wie aus der Zeit gefallen, so habe ich mich erst gewöhnen müssen an den Erzählton von Gurnah, der ein ruhiger ist, und etwas träge dahin fließt, wie ein breiter, mäandernder Fluss und wahrscheinlich habe ich auch nur einen Bruchteil von der Symbolik verstanden, die Gurnah in seinem Roman untergebracht hat. Gleich ob sie politisch oder religiös angelegt ist. Immer wieder mischt er arabische Begriffe und Swahili unter, zeigt auf das Lebensgefühl das herrschte, als die Europäer meinten Afrika untereinander aufteilen zu müssen. 

Gurnah steht für seinen bezeugenden Blick auf diesen Teil der afrikanischen Geschichte und er regt mich dazu an, mehr über die Zeit erfahren zu wollen. Ganz und gar “unsperrig”, literarisch nüchtern betrachtend, dann wieder mit poetischen Satzbildern Natur und Landschaft einfangend, und so eine Stimmung erzeugend, die ich als besonders empfunden habe, zeigt er mir einen sprachlichen Kontrast auf, den ich beeindruckend fand. Ihn musste auch Inge Leipold als seine Übersetzerin einfangen. 

“Der Mond war verschwunden, aber die herabrauschenden Wassermassen verströmten ein graukaltes Leuchten in dem die düsteren Knäuel von Büschen und Bäumen aussahen wie riesige Steine auf dem Meeresgrund.”

Textzitat Abdulrazak Gurnah, Das verlorene Paradies

Gurnah versteht es, den einstigen Hauptumschlagplatz für Sklaven, die Insel Sansibar, ihr Hinterland, die Handelsrouten, den Schmelztiegel Afrika, mit all seinen Facetten einzufangen. Nicht alle Ausdrücke die er dabei wählt, sind nach heutigen Maßstäben noch politisch korrekt, so manche sind derb, despektierlich vielleicht, verunglimpfend auch, das Gefühl dieser Zeit, der Zusammenprall der unterschiedlichen Kulturen, transportieren sie dafür perfekt und es wäre ein Verlust für den Gesamtkontext, würde man sie umdeuten. Inge Leipold hat sie bei ihrer Übertragung ins Deutsche erhalten, so wie der Verlag bei dieser Neuauflage den Ton der bereits 2010 verstorbenen Lektorin und Übersetzerin nach Durchsicht der Übersetzung erhalten hat.

Was ist Freiheit? Die Sätze eines alten Gärtners und Sklaven klingen in mir nach, während er Yusuf scheinbar nicht erreicht mit dem was er sagt, und sie fassen gegen Ende des Romans seinen Kern wie einen Diamanten in Gold …

Pierre Sanoussi-Bliss, geboren 17. August 1962 in Ost-Berlin, deutscher Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor, liest die ungekürzte Hörbuch-Fassung, in der man rund 10 Stunden verweilen kann. Mein erster Eindruck:
Was für eine Stimme! Sonor und wohltönend, wirkt sie ganz hervorragend mit dem Text. Aber war es richtig, mich für das Hören zu entscheiden? Ich bin abschließend nicht sicher, Sanoussi-Bliss hat alles richtig gemacht. Er hat sich nicht in den Vordergrund gedrängt, hat die sachliche Note die Gurnah einbringt unterstrichen und doch, bleibt mir das Gefühl lesend wäre mir ein anderer Eindruck geblieben. Wäre es mir leichter gefallen zu dem ein oder anderen Satz oder Absatz noch einmal zurückzukehren. Ihn noch einmal zu lesen. Mich damit zu klären. Andererseits hat mir Sanoussi-Bliss außerordentlich wohltuend über die Längen hinweg geholfen, die der Roman für mich durchaus auch hat. Wer die Wahl hat, also. In jedem Fall wird wer sich dafür entscheidet eine bemerkenswerte, detailreich ausgestaltete Geschichte finden.

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