Das andere Tal (Scott Alexander Howard)

Was wäre wenn? Wir in der Zeit reisen könnten? Wenn wir Menschen, die wir verloren haben wiedersehen könnten? Wenn wir einen Blick auf unsere Zukunft werfen, wenn wir ungeschehen machen könnten was uns, eine Beziehung belastet? Einen Fehler, einen schlimmen Moment, den schlimmsten Moment, unseres Lebens rückgängig machen könnten? Würden wir es tun? Was, wenn das unter Strafe stünde? Dann auch?

In seinem ersten Roman Das andere Tal kreist der studierte Philosoph und Postdoktorant Scott Alexander Howard, der sich in Havard mit der Beziehung zwischen Erinnerung, Emotionen und Literatur beschäftigt hat, um diese Fragestellung. Howard lebt in Vancouver, British Columbia wo vielleicht auch diese seine Geschichte spielt. In einem Kanada, an einem Ort, den er nicht benennt. Ein Ort, der mehrere Zeitzonen kennt. Man spricht französisch hier, es scheint im Sommer mild zu sein, denn es hat Weinberge, Obstplantagen und einen See.

Das andere Tal von Scott Alexander Howard –  aus dem kanadischen Englisch übersetzt hat Anke Caroline Burger.

Ein Tal. Zwei Täler. Drei Täler. Existieren nebeneinander. Wir betreten das mittlere der drei. Das im Osten von ihm liegende existiert als Parallelwelt, mit den gleichen Bewohnern, aber alles ist zwanzig Jahre weiter fortgeschritten. Das von ihm westlich liegende, hinkt in der Zeit, ebenfalls mit den gleichen Bewohnern besiedelt, zwanzig Jahre hinterher. Das Reisen zwischen den Tälern ist grundsätzlich untersagt. Es sei denn, jemand stirbt, ist verstorben. Nur dann, dürfen Angehörige die Täler wechseln. Das nach bewilligtem Antrag, ein jeder davon wird intensiv geprüft. Wird genehmigt, dürfen Besucher das jeweils andere Tal nur maskiert betreten und aus der Ferne beobachten, ohne in das Geschehen am besuchten Ort einzugreifen. Verstöße werden streng bestraft.

Überhaupt geht es streng zu. Das System, die Regierenden, die Ordnenden, agieren restriktiv. Wer flüchtet, den kostet es das Leben. Das System ist menschenverachtend, der Einzelne zählt nicht, Talent wird einzig zum Nutzen des Systems verwendet. Ein Schelm, wer da Regime erkennt, die auf unserem Erdenrund vertreten sind.

Unsere Heldin, die in diesem Tal lebt heißt Odile Ozanne und sie wird an einem Tag nach der Schule Zeugin eines Vorfalls, im nahegelegenen Wald, der sie nicht mehr loslässt. Zwei Besucher mit schwarzen Masken, in ihnen erkennt sie die Eltern ihres Schulfeundes Edme. Sie ahnt, dass das Auftauchen der beiden den Tod des Freundes ankündigt, entscheidet sich aber für ein linientreues Verhalten und dafür ihm nichts zu sagen. Eine Entscheidung, die sie alsbald und solange bereut, bis ihr der Autor dieser Geschichte eine zweite Chance gibt …

Erste Liebe und Pflichten, Aufwachsen im Wohlstand und im Gegensatz dazu bescheiden. Trauerreisen in die Vergangenheit sind gefährlich für das Jetzt und Hier. Sie bergen das Risiko, dass ein Eingreifen in der Vergangenheit die Gegenwart, Personen, ganze Familien verschwinden lässt. Trotzdem zu Handeln, in dem Wissen was geschehen wird und um das Risiko aller Konsequenz, ist das mutig oder verwerflich?

Wir lernen Odile kennen, da ist sie fünfzehn oder sechzehn, als für sie das Schulende ansteht und damit die Frage, was will, was kann sie werden. Ihre alleinerziehende Mutter hat hochfliegende Pläne für sie. Ein öffentliches Amt im Rat der Stadt soll sie bekleiden, klug wie sie ist, dafür muss sie zunächst ein strenges Auswahlverfahren bestehen. Wir bleiben bei Odile bis sie Ende Dreißig ist, erleben wie sie das Auswahlverfahren für ihre Ausbildung hin- und eine vielversprechende Karriere wegwirft. Soldatin wird. An den Zeitgrenzen.

Verrat aus den richtigen Gründen bleibt Verrat und der Schaden den er anrichtet, der bleibt auch. Odile trifft er in diesem Fall mit voller Härte.

Märchenhaft oder dystopisch? Kafaesk sogar ist diese Geschichte einerseits, aber Längen, die hat sie leider auch. Etwa zwei Drittel der Geschichte verstreichen relativ ereignislos und auch sehr formalistisch. Es geht um Beurteilungen, Zeitreisegenehmigungen und um ein kompliziertes willkürlich wirkendes Verfahren der Bewerberauswahl.

Hörbuchfreunde hält vorlesend, die 1996 in Frankfurt am Main geborene Schauspielerin Mala Emde bei der Stange. Ich für meinen Teil habe zu Beginn und bis in die Hälfte des Romans mehrfach überlegt abzubrechen. Der über weite Strecken sehr erklärende Tonfall von Howard hat mich ermüdet. Sein “Aufderstelletreten” und sein andeutender Stil erfordern Konzentration und auf seinen Weltenbau muss man sich erst einmal einlassen. Logische Lücken akzeptieren, die insbesondere dann entstehen, wenn sich die Zeiten mischen. Wenn ich an einen solchen Punkt gelange, versuche ich nach dem Autoren und seiner Idee zu greifen und in diesem Fall bin ich auf die Motivation, den Impuls gestoßen, der Howard dazu veranlasst hat, diese Geschichte zu schreiben und ich habe mit ihm gefühlt, wollte weiterlesen.

Howard berichtet in einem Interview, dass seine Frau und er innerhalb kurzer Zeit zwei Freundinnen verloren haben, die beide in ihren Dreißigern verstarben und das seine Frau von ihrer Freundin träumte nach deren Tod. Aufwachte und nicht traurig sondern glücklich war, weil sie das Gefühl hatte, der Traum habe ihr neue Erinnerungen an die Freundin geschenkt. Bei dem zweiten Todesfall von dem sie betroffen waren, kam er diesen einen Schritt zu spät im Hospiz um sich noch zu verabschieden. Die Frage, wie es wäre die Uhr zurückdrehen zu können haben wir uns vielleicht auch schon gestellt. Scott Howard geht gedanklich einen Tick weiter und fragt, würden wir eingreifen in den Lauf der Dinge, wenn wir es könnten? Was wäre dann?

Ein Faible für Philosophisches zu haben ist hilfreich um sich diesen Roman zu erschließen und wer Babel von Rebecca F. Kuang mochte, ist hier wahrscheinlich nicht ganz falsch. Auch sie kennt Längen, dreht sich um einen Kern und startet zum Ende hin durch. Der Beginn von Howards Roman mutet zunächst an wie eine Coming of Age Geschichte, er garniert sie mit einer ersten Liebe und ich frage mich: Hätte er nicht deutlich mehr für seinen Spannungsbogen tun müssen? Was er tatsächlich ändert, aber spät, eingedenk von satten 464 Romanseiten. Ab dem zweiten Teil der Geschichte kriegt er für mich die Kurve, da dürfte er allerdings unterwegs den ein oder anderen Lesenden verloren haben, was schade ist, denn die Kernidee seiner Geschichte entwickelt sich tatsächlich.

Die Atmosphäre der Geschichte wird zunehmend verzweifelter und finsterer, die Kulisse düsterer und da ist sie die Spannung, die ich die ganze Zeit über vermisst habe.
Ein Suizid hinterlässt quälende Fragen, wer würde die Antworten darauf nicht finden wollen?

"Schroff, wie ein herausragender Knochen, lagen sämtliche Gesteinsschichten der Nachbarschaft unter uns frei. Sie hatten das Gewicht unserer Häuser geschultert und unserer Kindheit festen Boden verliehen."

Textzitat Scott Alexander Howard - Das andere Tal

Von bröckelnden Gewissheiten, Neid, Eifersucht und Ehrgeiz, von Teenagergeplänkel und Hormonüberschwang erzählt uns Odile in der Ich-Form, bis es mit Beginn von Teil zwei im Roman zu einem Bruch kommt. Odile ist jetzt Dreißig und Soldatin. An der Zeitgrenze. Eine vielversprechende Karriere muss sie hingeschmissen haben. War sie doch so nah dran gewesen, das Auswahlverfahren für eine höhere Laufbahn zu bestehen. Bei der Gendamerie zu dienen kommt für viele einer Strafe gleich, sie scheint das völlig anders zu sehen. Begleitet Besucher auf ihrer Reise und Wanderung in das östlich gelegene Tal, in die Zukunft.

Zunehmend besser kam ich ab hier mit Howards Geschichte zurecht, sie ist erwachsener, entwickelt sich dynamischer, dramatischer und erinnert mich mit Odiles Dienst am Zaun bisweilen sogar an Game of Thrones, mit seiner Nachtwache an der aus Eis gehauenen Mauer. Ähnlich unüberwindlich geht es hier zu. Nicht immer kann der Verstand fassen was da geschieht und will es vielleicht auch nicht. Besonders als Odile sich selbst begegnet.

Im Gegensatz zu Howard hat Hervé Le Tellier mit „Die Anomalie“, dessen Roman ich unfassbar clever fand, eine Boing nebst Passagieren frech gedoppelt und der Thematik der Paralluniversen für mich etwas spannender die Krone aufgesetzt. Bei Scott Howard Alexander hatte ich mir ähnliches erhofft, sein Gedankenexperiment geht für mich so nicht ganz auf, auch wenn ich es nach wie vor faszinierend finde, mich zu fragen, was würde ich tun, wenn ich meinem Zukunfts-Ich begegnen könnte? Entscheidungen umkehren? Weitermachen? Wegsehen?

Wenn uns ein Weg vorbestimmt ist, dann findet er sein Ziel, was auch immer wir dagegen unternehmen. Wir nennen es Schicksal …

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