Sobald die Nomminierten des Deutschen Buchpreises bekanntgegeben worden sind, beginnt alljährlich das Spekulieren. Wer wird am Ende den begehrten Preis abräumen und auf der Frankfurter Buchmesse gefühlt keine ruhige Minute mehr haben? Aus der Longlist wird zunächst die Shortlist und das Favoritensterben nimmt seinen Lauf. Für mich ist das jedenfalls so. Denn meine persönlichen Favoriten sind, so lange ich mich mit diesem Buchpreis beschäftige noch immer leer ausgegangen und nicht selten bin ich nach der Lektüre mit dem Siegertitel nicht warm geworden. So ist das, eine Jury urteilt subjektiv und ich tue das schlußendlich auch. Küre unter allen Gelesenen der zurückliegenden Monate meinen Roman des Jahres und für dieses Jahr bin ich tatsächlich noch auf der Suche nach einem Titel, der alle anderen aussticht. Vielleicht wird es ja dieser hier? Die Autorin war unter den Nomminierten des Deutschen Buchpreises, hat den Sprung auf das Siegertreppchen aber nicht geschafft, ich war gespannt.
„Es war tatsächlich leichter, hatte sie hier festgestellt, den Tod auszublenden, wenn man nur in ausreichender Zahl von ihm umgeben war. 650.000 Tode täglich überforderte das Vorstellungsvermögen einfach, setzte es schachmatt.“ Textzitat Nava Ebrahimi
Und Federn überall von Nava Ebrahimi
Tausende Tode sterben hier tausende Hühner und eine der Figuren dieses Romans steht täglich im wahrsten Sinne des Wortes unter ihnen. Die Rede ist von Sonia Bose. Alleinerziehende Mutter, der ein Streit am Morgen mit ihrer Teenager-Tochter Leonie komplett aus dem Ruder gelaufen ist. Nach Handgreiflichkeiten hatte Sonia sie eingeschlossen. In ihrem Zimmer. Hatte sich machtlos gefühlt. Tat es noch immer.
An ihre Tochter kam sie nicht mehr heran. Die tauchte mehr und mehr ab in einer virtuellen Gaming-Welt und sie selbst, haderte mit den sie täglich umgebenden toten Hühnern. Am Ende des Tages wird sie, das weiß sie jetzt noch nicht, auf einen Prozessoptimierer treffen. Der wirkte jetzt seit zehn Jahren bei ihrem Arbeitgeber und war gerade dabei, eine Technik einzukaufen, die die mittlerweile häufig vorkommenden Wooden Breasts, ungenießbar harte Hühnerbrüste, aussortieren helfen sollte. Ein System, das Anna Seiwerth für ihre Company verkaufte und das am Ende selbstredend auch Arbeitsplätze einsparen muss. Erfolg wird schließlich in Kilogramm Fleisch je Mitarbeiterstunde gemessen.
Nava Ebrahimi, geboren 1978 in Teheran, lebt mit ihrer Familie in Graz. Ihr Romandebüt Sechzehn Wörter veröffentlichte die gelernte Journalistin 2017 und wurde dafür im Rahmen des Österreichen Buchpreises für das beste Debüt ausgezeichnet. 2020 erschien ihr zweiter Roman Das Paradies meines Nachbarn, der zwei Monate lang auf der ORF Bestenliste stand. 2021 gewann Ebrahimi den Ingeborg-Bachmann Preis für ihren Text Der Cousin. In ihrem aktuellen Roman, Und Federn überall, der bei Luchterhand erschienen ist, ich bedanke mich für dieses Besprechungsexemplar, kollidieren in einer Kleinstadt an der Nord-Ems, deren größter Arbeitgeber eine Geflügelfabrik ist, die Welten.
Sie lässt Nassim, einen halb erblindeten afghanischen Dichter, noch ohne Flüchtlingsstatus, an einem Fußgängerüberweg von einem Fahrradfahrenden überrennen. Letzterer ist fahrerflüchtig, was prombt die Lokalpresse auf dem Plan ruft.
Ephrahimi pickt sich einen Montag heraus, an dem wir mit Sonia Bose in der Zerlegung stehen. Sonia ist in Sorge und unkonzentriert, sie soll heute endlich ein Bewerbungsgespräch, für einen Job in der Verwaltung haben, Furcht und Sorge sind nicht die besten Beisitzer in einem solchen Gespräch, das weiß Sonia, das mehr geschwiegen als geredet werden würde, war so nicht zu erwarten.
Auch er hatte sich am Morgen noch nicht als Beteiligter dieses Gespräches geschehen: Peter Merkhausen, unser Prozessoptimierer ist ebenfalls abgelenkt, fiebert er doch einem Date am Abend entgegen. Mit einer gewissen Jystina, einer Polin, mit der er über eine Dating-App Kontakt hat. Auch er muss noch diesen Tag überstehen und Anna Seiwerth, die aus seiner Sicht unsägliche Projektverantwortliche, die sich müht endlich das in Aussicht gestellte heilsbringende System gangbar zu kriegen, das bezeichnender Weise Golden Eye heißt. Anna hingegen will nur eins: Hier wieder weg. Sie ist genervt davon, wie sehr die Entscheider hier einen auf „dicke Hose“ machen und stemmt sich dagegen.
Derweil kämpft Roshanak, deutsch-iranische Autorin mit der Übersetzung von Nassims Gedichten. Nassim treibt nur eines um, die Beamten bei seiner anstehenden Bleiberechtsanhörung mittels Poesie erweichen. Das muss gelingen, dafür braucht es seine Verse in Deutsch. Ihn wiederum hält man auf Trapp, nach dem Vorfall mit dem Radfahrer und seinem Blindenstock. Er wird für Interviews angefragt, sogar die Geflügelfabrik, respektive die Inhaberfamilie des Möllring-Imperiums will für ihn spenden. Medienwirksam versteht sich. Und da passiert es. Alles zerfällt. In einem einzigen Augenblick.
„Ich lächle noch immer, obwohl ich nicht weiß, weshalb, niemand hat hier einen guten Witz gemacht. Möglich, dass mir das Lächeln im Gesicht festgefroren ist, möglich, dass ich nicht anders kann, dass wir alle nicht anders können.“ Textzitat Nava Ebrahimi
Die deutsch-polnische Vergangenheit, ein Blick auf Afghanistan aus der Perspektive eines Geflohenen, die Furcht vor Abschiebung, Mobbing via Social Media und Gewalt in der Schule, Wurzellosigkeit und Demenz, illegale Beschäftigung, Profitstreben und Massentierschlachtung. Das sind nicht gerade wenig Themen die Nava Ebrahimi in diesem Roman verhandelt, wie schafft sie es ihre Geschichte(n) zugänglich zu halten und nicht zu überfrachten? Kritische Stimmen werfen ihr vor, genau das unnötiger Weise zu tun.
Ich habe das anders empfunden, mir war die Leichtigkeit mit der Ebrahimi schreibt und die Idee ihren Roman auf einen ultrakurzen Zeitraum zu begrenzen, das Lesen wert. Ihre Kernhandlung wickelt sie an einem einzigen Tag ab. Seitenstränge ergänzen erinnernde Perspektiven, Menschen verbinden sich miteinander, aus den verschiedensten Gründen und Motivationen heraus. Alle bringen sie ihre Geschichten, ihr Gepäck mit. Ist es nicht genau so? Gleich wo wir uns umschauen, unter Fremden, Nachbarn, Freunden, Kollegen, was wissen wir von dem, das andere um- oder antreibt?
Diese Lebensnähe ist es, die mir bei Nava Ebrahimi gefallen hat. Wie in einem Zeitraffer verdichtet sie und erreicht so eine Intensität in ihrem Text, die mich unweigerlich mitgerissen hat. Wie geschickt sie ihre Handelnden nach und nach miteinander verdrahtet. Dabei gesellschaftlich Relevantes einflechtet, das fand ich sehr gelungen. Mag sein, dass man dadurch bei den einzelnen Problemstellungen nicht lange genug verweilen kann um sie komplett zu durchdringen, der Tiefe ihrer Geschichte hat das nach meinem Empfinden nicht geschadet.
Die zum Text gehörende Hörbuchfassung von Der Hörverlag umfasst rund 9 Stunden Hörzeit und wird gelesen von Elisabeth Günther und Sarah Sandeh. Besonders Günther, die den Hauptpart liest hat mir sehr gefallen. Vom Lesen zum Hören wechseln, was ich mittlerweile immer lieber mache, weil es mir Facetten eines Textes aufschließt, die ich sonst verpasst hätte, hat mich auch in diesem Fall sehr gerne an dieser Geschichte dranbleiben lassen.
Auch weil Nava Ebrahimi fragmentarisch, immer wieder die Perspektive wechselnd und gleichzeitig zusammenhängend. Davon, wie es Peter Merkhausen drängt Jystina von seiner Babcia zu erzählen, seiner polnischen Großmutter, die im Widerstand gewesen war. Wir erfahren auf diese Weise von einer deutschen Stadt, die zu einer polnischen Enklave wurde. Ebrahimi nennt ihren fiktiven Ort im Roman Lasseren, Pate dafür stand Haren im Emsland, das nach dem Zweiten Weltkrieg als britische Verwaltungszone für drei Jahre, bis Herbst 1948, in Maczków umbenannt, Tausenden vertriebenen Polen zu einer neuen Heimat werden sollte. In Ephrahimis Geschichte leben unzählige polnische Saisonarbeitende in ihrem Lasseren, halten dort den größten Geflügelkonzern Deutschlands, der unter der Top Ten weltweit rangiert, am Laufen.
Roshi, die Autorin, beginnt und beendet diese Geschichte. Sie, ihre Sicht, ist das Ich-Erzählende Element, das Ebrahimi gekonnt einstreut. Wie alles nach und nach eins zum anderen führt. Die Zwangsläufigkeit mit der sich alles ergibt und fügt, die Unaufgeregtheit mit der erzählt wird, habe ich sehr gemocht. Wie dieser Roman kein Ende findet, wie am Schluss mit einer Vollbremsung alles erst einmal zum Stillstand kommt. Wie es da in meinem Kopf sofort weitergerattert hat. Wie hätte diese Geschichte für mich enden sollen? Und wenn sie nicht gestorben sind, dann … Was? Dieser Roman ist kein Märchen, diese Geschichte kann kein Ende haben. Was wird wohl aus ihnen werden? Aus Peter, Jystina und Nassim, Anna, Sonia und Roshi?

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