Was man von hier aus sehen kann (Mariana Leky)

Sonntag, 03.09.2017

Vorsicht Lieblings-(Hör-)Buch!

Aller Anfang war das Strickliesel … Von meiner Oma Anna habe ich das Stricken und das Häkeln gelernt. Mit ihr habe ich als Kind Bohnen geschnippelt, Sauerkraut eingeschnitten, Kirschen entkernt, Pflaumen eingeweckt, gestopft, gestickt. Das Schuhebinden hat sie mit mir geübt und sie hatte immer, bis ich erwachsen war, einen Apfel für mich. Von ihr habe ich auch gelernt, das man zwischen Weihnachten und Neujahr keine Wäsche aufhängt. Sie glaubte fest daran, das sonst in der Folge im Freundes- oder Familienkreis jemand sterben muss. Einmal sogar hat sie meiner Mama fassungslos die Wäsche wieder von der Leine gerafft. Bis heute halte ich mich daran. In diesem Roman hier, den ich heute mitgebracht habe, wohnt Elsbeth. Sie tickt an der Stelle genau wie meine Oma – und hat eine ganz bestimmte Saite in mir heftig zum Schwingen gebracht …

Was man von hier aus sehen kann (Mariana Leky)

1983, irgendwo im Westerwald. Luise war jetzt zehn und wenn sie Eines tat dann das, sie vergötterte ihre Oma Selma. Außer vielleicht, wenn ihre Oma diesen einen Traum hatte. Denn dann, wenn Selma von einem Okapi träumte, verharrten Luise und der gesamte Ort in Schrecken. Denn dann, wenn Selma diesen Traum träumte, würde binnen 24 Stunden jemand sterben. Das war immer so gewesen, immer außer einmal. Da hatte der Tod Verspätung und traf erst nach 28 Stunden ein …

Die Menschen im Dorf reagierten ganz unterschiedlich auf diese Traum-Botschaft, die der Wind jedesmal wirbelnd schnell verbreitete. Die Einen blieben gleich im Bett, Andere legten sich sofort wieder hinein, die Angst an diesem Traum zu sterben griff mit eiskalter Hand um sich. Sämtliche Tier-Begegnungen wurden gemieden, konnte einen doch sofort und unmittelbar ein jedes anfallen und tödlich verletzen. Um die Nachbarn machte man einen Bogen, nicht das man in einen Streit verfiel, dessen Handgemenge am Ende böse ausging. Die schlimmsten Fälle brauchten eine glücklich machende Spritze von Luises Vater, dem Dorfarzt. Kurz gesagt – das Leben stand still …

Die Nacht war tintenschwarz als Elsbeth ihr Haus verließ um in den Wald zu laufen. Bewaffnet war sie. Mit einer Rolle Draht und Alleskleber. Geduckt und unbeirrt von dem Wind, der in den Baumwipfeln heulte, ihr Laub und Äste in den Weg warf, hastete sie weiter voran. Sie hatte einen Entschluß gefasst. Das was der Optiker ihr heute anvertraut hatte, konnte so nicht bleiben. Vielleicht konnte sie das Schlimmste noch verhindern. Schließlich hatte Selma wieder von einem Okapi geträumt und die Stundenfrist war noch nicht abgelaufen …

Als er gestorben war, hielt die Zeit an. Gebrochene und gestörte Herzen humpelten im Gleichklang weiter. Nur mit einem todesähnlichen Schlaf ließ sich dieser Schmerz ertragen. Die Augen taten weh, waren vom Weinen rot gerändert. Alle klammerten sich aneinander und hielten sich an dem bisschen Leben fest, das noch geblieben war. Diese verdammten Okapi-Träume …

Mariana Leky, legt nach längerer Pause mit “Was man von hier aus sehen kann” ihren neuen Roman vor und Volltreffer! Sie ist eine echte Wortakrobatin, sie bringt meinem Leseherz das Purzelbaumschlagen bei! Wie kommt man denn Bitteschön auf solche Sätze? Einer schöner als der andere, wärmend wie ein Kaschmirschal. Nichts zwickt, nichts kratzt, jede Formulierung sitzt. Das ganze Buch – eine einzige Lieblingsstelle!

Ihre Figuren sind dabei so liebenswert verpeilt und unverstellt, dass man sie unbedingt persönlich kennenlernen will. Leky scheint mit ihren Charakteren verwachsen, beschreibt sie so anschaulich, so liebevoll, dass ich alle sofort vor mir agieren sehe. “In geblümten Nachthemden, in Anzügen die mit den Jahren zu groß geworden sind, traurig unter dem Tisch kauernd, das was man nicht aufessen will in den Hosentaschen verstauend, dem alterschwachen Hirtenhund Tabletten in die Leberwurst steckend, mit inneren Stimmen kämpfend die wahre Ausschreitungen verursachen, immer bereit auch an das Abwegige zu glauben”.

Ein ganz feiner Humor, eine leichte Ironie schleicht sich zwischen ihre Zeilen, manchmal hat sie mich gar an Loriot erinnert, laut habe ich dann aufgelacht. Selmas Leidenschaft für Mon Cherie, wie gut ich das verstehe …

Für mich wimmelt es geradezu von Lieblingsfiguren in diesem Roman, schwer sich da nur für eine zu entscheiden. Ein kleines bisschen lauter klopft mein Herz, wenn ich an ihn zurück denke: “Den Optiker”. So lebensklug! Er bringt Luise und Martin das Schwimmen, das Fahrrad fahren, das Schnürsenkel binden, das Lesen (mit Hilfe von Horoskoptexten auf Zuckertütchen!) und die Uhr bei. Übersetzt auch schon mal einen Songtext von Michael Jackson, für die beiden Kinder ins Deutsche. Seine Liebe zu Selma, der er einfach keine Worte geben kann, seine Treue, seine Empfindsamkeit, so sympathisch! Er ist der Kitt, der alles zusammenhält. Ihm wäre ich auch gerne begegnet in diesem kleinen Dörfchen, mit ihm am Apfelbach spazieren gegangen!

Verliebt habe ich mich in diese Geschichte, weil sie ist wie sie ist, einzigartig! Dieser wird sich nicht mein einziger Leky-Roman bleiben …

Sandra Hüller liest diese Geschichte wunderbar. Wunderbar einfühlsam, mit einer Sanftheit die mich sprachlos macht. Man hört sie lächeln, jeder Situation wird sie gerecht. Wie sie Luises defekten Anrufbeantworter gibt ist einfach nur köstlich. Auf ihrer Stimme schweben die Worte wie Seifenblasen heran, verharren einen Augenblick und zerplatzen dann in tausend glitzernde Tröpfchen. Sooo schön! Sie erzählt uns diesen Roman, als wäre es ihre eigene, selbst erlebte Geschichte.

Immer wieder habe ich diesmal auf die Hörzeit geschielt die noch verbleibt. Bereits bevor der letzte Satz ausgesprochen war, setzte bei mir das Heimweh nach Luise, Selma, Marlies, dem Einzelhändler und meinem Optiker ein …

Mindestens tausend weitere Wörter lang könnte ich noch schwärmen! Aus jetzt, seufz, ich werde hier echt zum “Gefühlsdusel”: Unbedingte Hörempfehlung!

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