Neujahr (Juli Zeh)

Sonntag, 28.10.2018

Sie sind ein Touristenmagnet mit auch stillen, einsamen Winkeln. In erträglicher Entfernung erreichbar. Hier kann man überwintern ohne Matsch und Schnee. Unterschiedlich sind sie was Fauna und Flora anbelangt, vulkanischen Ursprungs, hier hat eine Sprache überlebt die nicht mehr viele verstehen. Die kanarischen Inseln – für mich stehen sie für etwas ganz anderes, nämlich für die Veränderung als solches.

Auf Lanzarote haben mein Mann und ich vor einigen Jahren beschlossen unser Haus zu verkaufen und neu anzufangen. Unsere Abendessen und Spaziergänge dort waren geprägt von Grundsatzdiskussionen und dem Ringen um eine Entscheidung, die auch finanziell keine leichte war. Beim spanischen Rotwein haben wir dann Pläne geschmiedet, geträumt und nein, für Vorsätze braucht es keinen Jahreswechsel. Bei uns war es der Spätsommer, der damals die Wende in unserem Leben brachte und nicht Neujahr – aber es war die gleiche Insel wie bei Henning, in Juli Zehs neuem Roman. Da es ja keine Zufälle gibt, war es wohl Bestimmung, dass ich zu dieser Geschichte gefunden habe und sie zu mir …

Neujahr (Juli Zeh)

Wir schreiben die Jahreswende 2017 auf 2018. Henning hatte auf diesen Weihnachtsurlaub bestanden. Seit Wochen schon klebte sein Blick an weißen Villen im Internet, in die man sich einmieten konnte, an Tropfsteinhöhlen und an einer bizarren von Vulkanen geformten Landschaft. Lanzarote! Seine Frau wäre mit den beiden Kindern und ihm lieber zu Hause geblieben und hätte hier gemütlich Weihnachten gefeiert. Schließlich hatte sie ihm doch nachgegeben, so drängend war ihr sein Wunsch erschienen. Genau genommen hatte er sie vor dem Buchen gar nicht erst gefragt. Jetzt gab er vor, er habe sie überraschen wollen – das sah ihm so gar nicht ähnlich …

Schwarze Strände auf denen dunkelgrün Onyxkristalle funkeln. Die Temperaturen waren angenehm, nur der Wind, der Wind forderte sie heraus. Peitschte das Meer, trieb ihnen Tränen in die Augen und die Kinder zurück ins Haus. Als Fahrradinsel wurde Lanzarote beworben, genau das hatte er auch gesucht. Er wollte mit sich und seinem Drahtesel allein sein. Zu Hause kam er nicht mehr zum Trainieren und hier wo auch die Profis die Berge nieder rangen, würde er sich messen können, mit sich und dieser Landschaft. Alles sprach also für perfekte Ferien bis eine Fahrradtour Henning nicht nur räumlich und körperlich an einen Abgrund führt …

“Wie abgetrennt vom echten Leben, von allem was ihn beschwerte, als hätte er eine Nische gefunden in der er sich vor sich selbst verstecken konnte. Bei Nacht sahen die Vulkane noch unwirklicher aus. Dunkelschwarze Schatten vor einem hellschwarzen Himmel, als führe man durch die Kulisse eines Fantasy-Films. Der Mond lag auf dem Rücken, schmal wie ein abgeschnittener Fingernagel. Die Sterne waren zahllos und hell.” (Textzitat)

Ein schwarzes Loch im Boden, finster und bodenlos tief lag die alte Zisterne hinter dem Ferienhaus. Beide Kinder an der Hand, so hatte sich Ulla mit langsamen, vorsichtigen Schritten dem Rand genähert, mit den beiden in die Tiefe gespäht. Ihnen eingeschärft dort unten wohne ein Monster und wenn sie alleine an den Rand heran kämen, würde es nach ihnen schnappen und sie hinab ziehen …

Juli Zeh, geboren 1974 in Berlin, studierte Jura, schreibt mittlerweile Romane die Welterfolge sind. Diesmal erzählt sie uns von einem Ehepaar, das funktioniert und macht. Sie erklärt, dass “machen” das Lieblingswort ihrer Figur Teresa und “funktionieren” das Lieblingswort von Henning ist. So meint Henning, solange alles funktioniere müsse man ja nichts machen. Und Teresa man muss machen, damit es funktioniert. Für die Betreuung der Kinder haben beide ihre Arbeitszeit teilweise ins Homeoffice verlegt. In ihrer Ehe ist Henning derjenige der weniger Geld nach Hause bringt und der dem gemäß mehr Anteile an Kinderbetreuung und Hausarbeit übernimmt. Je mehr Zeit er aber für sich ab zu knappsen versucht, desto größer wird gefühlt sein Schuldenkonto in dieser Beziehung. Als sich die Panikattacken erstmals einstellen hält er sich für körperlich schwer krank. Als sie sich manifestieren und er mit ihnen leben muss kann er sich und seine “Schwäche” noch weniger leiden. Was für ein Teufelsrad!

Mikrokosmos “moderne Familie” – wie hat man denn heute als Vater zu sein? Wie als Mutter? Wer übernimmt die Rolle des Ernährers und wie teilt man den Alltag gerecht auf? Gelingt es dabei die eigenen Bedürfnisse nicht aus dem Blick zu verlieren und auch die des Partners zu achten? Überhaupt, wie ist das mit Achtsamkeit und Verständnis in so voll gepackten Tagen?

Jeder von uns, der volle Schreibtische, wachsenden Aufgabendruck kennt, findet sich hier wieder. Leidet mit, hofft das den Figuren ein Ausstieg gelingen möge bevor es zu spät ist. Die Idee körperlich bis an die Grenzen zu gehen, sportlich während einer Bergtour mit dem Rad, und sich damit von der Drangsal des Alltags und von seinen inneren Zwängen zu befreien, klingt daher auch nach einer guten, einer nachvollziehbaren Idee.

Der Kampf auf dem Rad gegen den Berg steht hier wie ein Symbol für den Hürdenlauf in Hennings Leben. Wie er sich Meter um Meter vorwärts kämpft, immer nur an das nächste Wegstück denkend, nicht weiter voraus. Selten genug sind wir so sehr bei uns, oder? So gegenwärtig, dass wir jede Muskelfaser spüren können.

Was dann aber in dieser Kargheit und Einsamkeit mit Henning geschieht, ist völlig überraschend und gibt dem Roman eine tolle Wendung. Der Plot verzweigt sich und Juli Zeh beginnt auszupacken, mit der Wahrheit, wie beim Häuten einer Zwiebel legt sie eine Geschichte in der Geschichte frei, die auch eigenständig eine Wucht entfaltet die einen anweht wie ein kalter Ostwind. Urknallmäßig entwickelt sich alles Weitere in der Folge, verhängnisvoll und unausweichlich.

Für mich fühlte sich das von Zeh gezeichnete Szenario schon zu Beginn an wie eine Zeitbombe, an der bereits die Lunte brannte. Dieser Abzweig im Roman, der sich mit zwei Geschwisterkindern, fünf und zwei Jahre alt beschäftigt, die auf Lanzarote in einem Ferienhaus am Berg allein zurückgelassen werden, schlägt mir dann richtig die Beine weg.

Ich durfte Juli Zeh in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse in einem Interview erleben und sie erzählt genau von dieser Idee, die in ihr bei einer Radtour auf Lanzarote auf ploppte und um die herum sie ihren Roman dann auch entwickelt hat. Das fand ich super spannend, für mich ist das nachdem ich die Geschichte beendet habe beinahe so, als habe man das Pferd von hinten aufgezäumt. Irre wie Ideen keimen und welche Verästelungen sie in den Köpfen der Autoren treiben, die wir verehren. Es ist ihr zweiter Roman, der auf Lanzarote spielt und sie selbst hat schreibend viel Zeit auf der Insel verbracht.

Sehr beeindruckend fand ich, wie Zeh über die Panikattacken von Henning schreibt, sie als ES bezeichnet und darstellt wie ein lauerndes Tier, immer zum Sprung bereit, ständig gereizt, schwer bezähmbar, nicht beherrschbar – Für jeden, der schon einmal eine solche Attacke hatte oder bei einem nahe stehenden Menschen eine miterlebt hat, sind diese Schilderungen so dermaßen realistisch, dass es einem die Tränen in die Augen treibt. Der verzweifelte Kampf, den es jeden Tag, ist man mit diesem Fluch geschlagen aus zutragen gilt, macht ihre Figur mehr als nahbar.

Überhaupt sind es genau diese Gefühls- und Stimmungslagen, die Zeh beschreibt, wie sie scheinbar auch in den Köpfen der beiden kleinen Kinder sitzt, die diesen Roman für mich herausragend machen. Oberflächlichkeit ist was für andere, sie ist nichts für Juli Zeh! Aus ihrer Feder kommt eine Tiefe die berührt, die einen hier bang werden läßt. Jedes Wort habe ich ihr geglaubt, jede Träne mitgeweint, mitgekichert und getobt. Hätte am liebsten getröstet, nachts wenn die Wände drängend näher rücken, die Flure länger werden, das Vermissen plagt, wenn in den Schatten Fratzen lauern, alle Geräusche seltsam verstärkt sind.

Ja, ihr lest richtig, Spannung kann sie auch noch! In Neujahr baut sie diese langsam auf, pflanzt Vorahnungen, erzeugt einen Strudel, der einen unaufhaltsam mit nach unten zieht. Findet sich der Schlüssel zu einem Leben, zu dem die Zeit längst die Tür zugeschlagen hat?

Florian Lukas kenne ich als Schauspieler aus der erfolgreichen Fernsehproduktion Weissensee. Dort spielt er einen Polizisten in der DDR zur Wendezeit. Ich war gespannt darauf ihn jetzt erstmals als Hörbuchsprecher zu erleben und er hat meine Erwartung nicht enttäuscht. Zu der Figur des Henning paßt er sehr gut, liest ihn mit einer Nachdenklichkeit und Verletzlichkeit, die mich begeistert hat. Eine gelungene Hörbuch-Fassung ist das geworden! Packend, beklemmend – zählt sie zu meinen Favoriten in diesem Hör-Jahr. Klasse!

Verfasst von:

4 Kommentare

  1. Petra
    21. November 2018

    Liebe Lisa, schön Dich hier zu treffen! Schade, das Dich die Lesung nicht hat abholen können, ich konnte Juli Zeh auf der Frankfurter Buchmesse im Interview erleben und war sehr beeindruckt von ihr. Leere Herzen liegt auch noch auf meinem Lesestapel. LG von Petra

  2. Lisa
    19. November 2018

    Ich habe gerade Deinen Blog entdeckt und mich gefreut, eine Rezension von Neujahr zu finden. Am Donnerstag war ich auf einer ihrer Lesungen und leider arg enttäuscht. Wenn Du Lust auf Austausch hast, ich veröffentliche bald einen Kommentar zu der Lesung und eine Rezension zu “Leere Herzen”

  3. Petra
    29. Oktober 2018

    Das freut mich sehr Dorothee! Wünsche Dir beste Unterhaltung wenn Du Dich dafür entscheidest. LG von Petra

  4. Dorothee
    28. Oktober 2018

    Ich hatte das Buch schon mal ins Auge gefasst…Deine Rezi hat mich bestärkt!

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