Mein Ein und Alles (Gabriel Tallent)

*Rezensionsexemplar*

Ich sag es Euch besser gleich – das hier wird keine meiner üblichen Buch-Besprechungen, weil ich echt kurz vor der Eskalation bin!!! Für die Ausdrucksweise, derer ich mich gleich bedienen muss, entschuldige ich mich schon mal, aber dieser saufende, fluchende Dreckskerl von einem Vater macht mich echt rasend!

Stephen King bezeichnete diesen Roman als “Meisterwerk” und wenn der Altmeister des Horrors und der Fraktion der wirklich durchgeknallten Romanhelden das sagt, da schau ich mal genauer hin, hab ich mir gedacht.

Der Titel Mein Ein und Alles könnte einen zunächst vermuten lassen, das wird ein Liebesroman. Gut in gewisser Weise ist er das auch, aber bevor die ersten, die die Geschichte bereits kennen, jetzt Steine nach mir werfen – diese Liebe ist krank. Da gibt es nicht einen Hauch des Zweifels.

So zieht man eindeutig Amokläufer groß, habe ich zu Beginn des Romans von Gabriel Tallent  gedacht. Waffenverliebt, menschenverachtend, übergriffig – hat der Autor ein Monster erschaffen, das demütigt und quält. Man könnte schier verrückt werden, bei diesen Szenen wo er sich an Turtle zu schaffen macht! Ich sitze im Auto und schreie laut –

Dabei geht es eigentlich um sie, um Julia Alveston, Spitzname Turtle, vierzehn Jahre alt, sie lebt allein mit Vater und Großvater in einer einsamen, aber mit der teuersten Gegend Nordkaliforniens, in der Nähe der Stadt Mendocino. Vierundzwanzig Hektar Land gehören zur eher ärmlichen Behausung des verbohrten, komplett verkorksten Vaters. Das Land ist Millionen wert. Die Nachbarn, zumeist grasanbauende Alt-Hippies sind weit weg und scheinbar auch blind und taub.

Turtle kümmert sich gerne um Dinge, pflegt sie, hält sie in Schuss – z. B. ihre Sig Sauer. Jeden Abend zerlegt sie sie, putzt und ölt die Teile, setzt sie wieder zusammen. Wenn das Schießtraining wie heute nicht gut gelaufen war, und ihr Vater sie gerügt hatte, sie hätte nicht genug Angst und würde deshalb in einem Kampf auf jeden Fall drauf gehen, schneller als sie Piep sagen kann, war ihr klar wie schwach sie war und das diese Härte die er zeigte, das einzige war, was sie weiter brachte. Selbst dann, wenn er mit dem Schürhaken auf sie einschlug, verzieh sie ihm, von Flohbissen und Blutergüßen übersäht, das Trommelfell geplatzt!

Zumeist war sie barfuß unterwegs und sie kannte sich aus, mit allem was da wuchs und krabbelte in den Wäldern rund ums Haus. Mit gleichaltrigen Mädchen hatte sie so ihre Probleme, in der Schule hing sie mittlerweile so weit hinterher, dass ihre Lehrerin bereits den Rektor und die Schulpsychologin in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Turtle hasste sie dafür, dass sie soviel Aufsehen machte und weil sie doch schließlich nichts sagen konnte, nichts davon erzählen konnte, das sie sich immer in die Zinkwanne setzte, alles an ihr geschwollen schien, nachdem er mit ihr fertig war …

An guten Tagen nannte ihr Daddy sie Krümel, shampoonierte ihr die Haare, gab vor sie zu lieben, sie sei der Grund für den er morgens aufstehe. Übergriffig ist sie diese Liebe. An schlechten Tagen nannte er sie Luder, Ritze. Sich selbst vergessend, rücksichtslos benutzt er sie, demütigt sie, schlägt sie, verlacht sie. Unberechenbar ist er, ein Hüne, ein Bär von einem Mann, wie eine tickende Zeitbombe, impulsiv und gewalttätig. Ein elender Mistkerl.

Gabriel Tallent, geb. 1987 in New Mexico lebt heute in Salt Lake City. Nach seinem Universitätsabschluss führte er zwei Jahre lang im Sommer Gruppen mit Jugendlichen durch die Wildnis der Nordpazifischen Küste. Mein Ein und Alles ist sein Debüt-Roman. Nach Verlags-Angaben hat dieser Roman Amerika überwältigt und gespalten, beherbergt er doch eine der unvergesslichsten Heldinnen der zeitgenössischen Literatur. Wie bereits eingangs erwähnt meint Stephen King über Tallents Roman “Der Begriff “Meisterwerk” wird zu häufig benutzt, doch Mein Ein und Alles ist ohne jeden Zweifel eines.”

Ja, was ist jetzt mein Fazit? Bin ich mit dem guten Stephen King einer Meinung? Nein, ich bin noch immer unentschlossen was mir Tallent mit diesem seinem Werk sagen will. Ich hasse ihn dafür, dass er mir die ungeschminkte, nackte Fratze dieses Wahnsinnigen so vor die Nase hält. Verfluche ihn für die Gewalttätigkeit, für den emotionalen Druck den er mir beim Lesen gemacht hat. Nein, das ist wahrlich kein Wohlfühlbuch und es gehört für mich ein Warnhinweis auf das Cover.

Etwa in der Mitte der Geschichte kommt ein Bruch und man glaubt zunächst, dass es sich beruhigt, das noch alles möglich ist. Dann nämlich als der Großvaters, der ahnte was da zwischen seinem Sohn und seiner Enkelin vorgehen musste, buchstäblich der tödliche Schlag trifft als er es auszusprechen versucht. Julias Vater verschwindet danach spurlos für drei ganze Monate um dann aber mit einem neunjährigen verwahrlosten Mädchen im Schlepptau zurück zukommen. Der Horror erreicht eine neue Dimension – was dann abgeht ist für mich nicht mehr auszuhalten. Ich fluche und will schon abbrechen, dann aber doch wissen ob nicht jemand dieses Scheusal stoppen kann …

Für ein Meisterwerk fehlt mir auf jeden Fall die sprachliche Ausgewogenheit, zuviel wörtliche Rede, die mit gefühlten zig Mal “sagte X”, “sagte Y”, “sagte Z” ergänzt wird. Die eingebundenen Flüche passen zu seinen Figuren, wirken glaubwürdig, aber mögen muss man das ganz eindeutig.

Zu den Waffengesetzen in den USA kann man ja stehen wie man will, bei Tallent ist mir zuviel Pro verwoben. Die Selbstverständlichkeit mit der hier ein Kind an Waffen herangeführt wird und mit der dieses auch mit ihnen und durch sie agiert, hat mich extrem nachdenklich und wütend zurück gelassen.

Gab es etwas, was mich auch für den Roman eingenommen hat? Ja, und zwar ganz klar dieses wunderbare, mutige, nachdenkliche Mädchen, das ich auf seinen Gedankenfluchten nur zu gerne an die Hand genommen hätte, auf das ich gern acht gegeben und das ich gerne beschützt hätte. Da ging es mir wohl wie vielen amerikanischen Lesern, die glaubt man den Besprechungen im Feuilleton, von diesem Roman in zwei Lager gespalten wurden. Ungläubig nimmt man die unsichtbaren Fesseln wahr, mit denen dieser Soziopath seine heranwachsende Tochter an sich gebunden hält. Ihre Scham, die Selbstzweifel, die Angst, die Hörigkeit, ihren Wunsch nur noch sterben zu wollen. Lange war ich bei ihr, erschrocken darüber was dieser Scheißkerl aus ihr gemacht hat.

Tallent ist ein aufmerksamer Naturbeobachter, man merkt ihm an, dass er in diesen Wäldern selbst viel umher gestreift ist. Er beschreibt szenisch genau und atmosphärisch was hier kreucht und fleucht. Ihm fallen Pflanzen auf, die wir nicht einmal mit Namen kennen. Auch am Meer scheint er zu Hause, die Gefahren einer stürmischen Brandung, die Tücken der Gezeiten, die schweren Verletzungen die Julia und Jacob sich bei einem harmlos gedachten Ausflug zuziehen, schildert er plakativ. Ja, landschaftlich gesehen ist es hier abseits des Horrors traumhaft schön …

Also Ihr Lieben, wer sich diesem Stoff annähert, hat harten Tobak vor sich, der einen zwischen Entsetzen, Ekel, heiligem Zorn und Mitleid schwanken läßt und definitiv nichts für eher zartere Gemüter ist. Sinnlose Gewalt gibt es hier reichlich, wobei sich mir die Frage aufdrängt wann Gewalt überhaupt Sinn macht, Tallent badet förmlich in ihr – mir ist das zu viel – ohne Wenn und Aber …

“Nur noch ein bisschen Turtle, halt dich an der Welt fest, mach jetzt keinen Scheiß”. (Textzitat)

Und die Hörbuch-Fassung? Ungekürzt mit ca. 13h und 6 Min, wird sie gelesen von Anna Thalbach. Bereits zweimal wurde sie mit dem deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. Das klingt nach den besten Voraussetzungen – mich hat sie jedoch nicht uneingeschränkt überzeugen können. Mit verstellter Stimme liest sie die Passagen der Männer und das empfand ich stellenweise als grotesk überzeichnet und schon unfreiwillig komisch, was mir hinsichtlich der Dramatik des Textes auch nicht als angemessen erschien. Die Stimme von Turtle kommt bei mir bisweilen zu kindlich an.

Sehr gut fand ich hingegen die Interpretation der neunjährigen Cayenne – ihr Flehen zerreißt einem wirklich das Herz. Ein Unentschieden also für den Vortrag von Thalbach von mir. 

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    11. November 2018

    Das Buch polarisiert in der Tat sehr stark, Denis Scheck gehört wohl auch zu seinen Befürwortern. LG von Petra

  2. Dorothee
    10. November 2018

    Meine Güte…nein, so etwas will auch ich nicht lesen oder hören! Ich hätte das Buch ganz sicher abgebrochen…
    Aber trotzdem hast Du wieder eine gut lesbare, interessante und informative Rezension geschrieben!

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