Die Sehnsucht des Vorlesers (Jean-Paul Didierlaurent)

Sonntag, 23.04.2017

Was passiert da eigentlich? Wie kommt es, dass der Funke für die Lesebegeisterung bei dem Einen zündet und bei dem Anderen nicht? Selbst bei Geschwistern steckt der “Lesevirus” meist nicht alle gleichermaßen an. In meiner Familie war das auch so, meine Schwester war da eher resistent, mich hat es dagegen voll erwischt. Die Spätfolgen dieser Infektion kann man bis heute an mir ablesen 😉. In meiner Kindheit unterstützten auch Fernsehsendungen die Lesewut, erinnert Ihr Euch noch an “Lemmi und die Schmöker”? Wenn die kleinen Waggons mit den Geschichten über die Deckenschiene rollten, lag ich bäuchlings auf einem künstlichen Schafffell vor dem Fernseher und war wie paralysiert. Richtiggehend in die Geschichte eintauchen war hier möglich, das wollte ich auch immer können, mittendrin sein – aber wenn es brenzlig wird auch jederzeit wieder raus hüpfen … Bequem aus dem Sessel heraus überall hin reisen, ohne lästiges Koffer packen und Koffer schleppen. Oder sich vorlesen lassen, das habe ich eigentlich jetzt erst richtig entdeckt, seit ich eine längere Strecke zur Arbeit überbrücken muß und ch möchte es nicht mehr missen …

Die Sehnsucht des Vorlesers (Jean-Paul Didierlaurent)

6 Uhr 27 – im Regionalzug nach Paris sitzt Guylain Vignolles auf dem schmalen orangenen Klappsitz rechts neben der Tür. Wie jeden Morgen auf dem Weg zu seiner Arbeit entnimmt er seiner ledernen Aktentasche eine Sammelmappe und daraus ein einzelnes Blatt Papier. Im Waggon wird es allmählich still und Guylain beginnt wie an jedem Morgen zuvor laut vorzulesen …

Die Pendler in seinem Zug kennen ihn bereits, den komischen Spinner, den liebenswerten Kauz. Sie lieben dieses Ritual, niemanden stört es, dass die Texte die er vorliest so wie sie aufeinander folgen überhaupt keinen Sinn ergeben. Auf ein Kochrezept folgt eine Krimi-Passage oder eine Seite aus einem Liebesroman. Guy liebt Bücher und er liebt das Vorlesen, magisch sind diese Momente im Zug, wenn alle um ihn herum verstummen …

Dann ist es soweit, Guy muß aussteigen, wie so oft beginnt er zu zittern, der Weg zu seinem Arbeitsplatz eine einzige Überwindung, oft packt ihn gar körperliche Übelkeit, denn auch heute wird sie wieder auf ihn warten – die Bestie …

Endlich Mittagspause! Im Wachhäuschen bei Yvon Grimbert verbringt Guylain sie am liebsten. Yvon ißt nie zu Mittag, stattdessen rezitiert er leidenschaftlich klassische Verse, schweigt dann oft wieder minutenlang. Guy ist ihm dann Stichwortgeber und Projektionsfläche – die beiden ein eingeschworenes Team, verstehen sich wortlos.

Für LKW Fahrer die ungeduldig während dieser Pausen in ihrem 38 Tonner mit den Hufen scharren und Einlaß begehren, kennt Yvon keine Gnade. Er tritt aus seinem Häuschen, mittlerweile ein Meister des Deklamierens, besser als die meisten Theaterschauspieler, zieht einen Vers und trifft sie völlig unvorbereitet mitten in den Solarplexus, denn “ein guter Vers ist scharf wie ein Degen!” Auch diesmal klappt es, der Fahrer der hier zum ersten Mal vorfährt steht am Ende der Tirade wie unter Schock, er kurbelt sein Fenster hoch und verschwindet eiligst in einer Abgaswolke als ihm Yvon endlich den Weg frei gibt. Für Guy sind solche Auftritte jedesmal ein Fest!

Dieser Tag im Zug aber ist anders, direkt vor seinem orangeroten Klappsitz liegt etwas. Guy bückt sich und hebt es auf, es ist ein USB Stick und er nimmt ihn nicht nur an sich, er nimmt ihn mit sich und klar, liest er zu Hause was sich in seinem Inneren verbirgt …

Jean-Paul Didierlaurent wurde 1962 in La Bresse im Elsass geboren. Mit der “Sehnsucht des Vorlesers” hat er seinen ersten Roman veröffentlicht und die Geschichte ist innerhab der ersten vier Wochen bereits in 26 Länder verkauft worden. Kein Wunder das! Für mich ist sie eine der liebenswertesten, grausamsten, romantischsten, bezaubernsten Geschichten, die ich je gelesen habe. Man fliegt über die Seiten, sitzt früh mit Guy im Zug, hört ihm zu. Das geht, denn der Autor hat die Vorlese-Schnippsel mit abgedruckt! Die Figuren, der Handlungsstrang – wunderbar … Ich will auf keinen Fall zu viel verraten, jedes weitere Wort könnte eines zu viel sein und den Zauber der Geschichte schon vorweg nehmen … Psst, genießt es!

Gut zu wissen: Die Geschichte ist gerade im Taschenbuch erschienen!

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