Die Hochhaus-Springerin (Julia von Lucadou)

*Rezensionsexemplar*

Sonntag, 30.09.2018

Die Knie’ weich wie Pudding, in meinem Kopf hat sich ein Drehschwindel festgesetzt und in meinem Magen ist es flau. Kann mir bitte jemand die Hand geben? Sonst komme ich hier nicht wieder weg …

Dieses Foto hier hat mich echte Überwindung gekostet, für Euch habe ich mich weit rausgewagt aus meiner Komfortzone, habe mich meiner Höhenangst gestellt, mit klopfendem Herzen, das Ziel fest im Blick. Ich atme durch, bin stolz – geschafft. In meinen diesjährigen Ferien ist es entstanden, dieses Foto hier, unterwegs auf einem Hochhaus, auf hoher See, zwölf Stockwerke über dem Meer:

Wie es sich anfühlt aus einer solchen Höhe in die Tiefe zu springen, will ich mir gar nicht erst vorstellen. Der Schlag würde mich treffen, noch in der Luft. Mir, der schon auf dem drei Meter-Brett beim Schwimmunterricht schlecht wurde, wird die Brust ganz eng bei dem Gedanken. Die Anfeuerungsrufe meiner Mitschüler habe ich noch im Ohr, und auch ihr Lachen, wenn ich über die Leiter des Sprungturms wieder einmal den Weg nach unten angetreten habe. Einmal bin ich tatsächlich auch gesprungen, für die Note halt, – und es war furchtbar. Der Fall ins Bodenlose, der Kontrollverlust. Nicht zu springen aber hätte eine sechs bedeutet, weil gleich Leistungsverweigerung. Von der Häme und dem Gesichtsverlust will ich gar nicht erst reden …

Vielleicht hat mich das ja zu diesem Roman greifen lassen, die Neugier, ob da tatsächlich jemand springt, oder ob der Titel im übertragenen Sinn für etwas ganz und gar anderes steht. Kommt traut Euch, wir springen mal ab zwischen die Zeilen der Geschichte von Julia von Lucadou:

Die Hochhaus-Springerin

Textzitat: “Was Sie erleben ist körpergewordene Euphorie, die zwischen den Häusern pulsiert. Schließen Sie die Augen. Lassen Sie sich anstecken. Spüren Sie in sich hinein bis in die Fingerspitzen, spüren Sie das Pochen Ihres Herzens, wie es sich in Ihrem Körper ausbreitet. Wenn sie die Augen öffnen, stürzt sich die Frau vom Hochhausdach kopfüber in die Tiefe.”

Sie sind die Stars dieser durchgestylten, hypermodernen Stadt – die Hochhaus-Springer. Alle diejenigen, die ihrem unterprivilegierten Leben in den Peripherien entkommen wollen, streben den Castings zu um springen zu dürfen. Umjubelt, gefeiert und verehrt wollen sie sein. In den sozialen Netzwerken nimmt man Anteil an ihren Leben, an ihren von Medien-Agenten gelenkten Schicksalen.
Gut der ein oder andere Unfall mit tödlichem Ausgang passiert da schon, aber frisches Futter gibt es ja ausreichend und die Zuschauer stecken das weg …

Riva Karnovsky ist ein solcher Star. Schön und talentiert. Als Leistungssportlerin trainiert sie diszipliniert wie ein Uhrwerk. Absolviert ihre Sprünge mit Präzision, wird von ihren Fans geliebt von ihren Sponsoren auf Händen getragen, finanziell gesehen.

Als sie sich von einem auf den anderen Tag verweigert, sich in ihrer Wohnung verkriecht, stumm auf dem Fußboden sitzend, ihr Training und was noch viel schwerer wiegt ihre Postings, ihr öffentliches Leben einstellt, verliert sie tausende Follower in Windeseile. Da können und wollen ihre Sponsoren nicht tatenlos zuschauen. Man hat einen Vertrag mit ihr, sie hat zu spuren.

Hitomi Yoshida, eine junge Psychologin, setzt man auf sie an, sie scheint genau die Richtige zu sein um Riva wieder in die sprichwörtliche Spur zu bringen. Und Hitomi ist geehrt, einen solch prominenten Therapie-Patienten hatte sie noch nie. Das kann ihr Durchbruch werden! Sie gibt alles, um sich und ihren Chef nicht zu enttäuschen, verliert sich dabei aber selbst immer mehr, bis die Lage völlig außer Kontrolle zu geraten scheint …

Julia von Lucadou ist promovierte Filmwissenschaftlerin, ihr hier vorgestellter Debütroman entführt uns in eine Zukunft, die sie weder zeitlich noch örtlich näher bestimmt. Aus dem Stand ist sie damit für den diesjährigen Schweizer Buchpreis nominiert worden. Des Eindruckes, das diese Zukunft in nicht allzu weiter Ferne auf uns wartet und so oder so ähnlich eintreten könnte, kann man sich schon nach den ersten gelesenen Sätzen nicht erwehren. Sie ist erschreckend real gezeichnet, stylish designt, so präzise wie die Sprünge von Riva und so analytisch wie die Diagnosen von Hitomi.

Und wo wir schon beim Springen sind, am liebsten wäre ich tatsächlich in die Geschichte hinein gesprungen und hätte Hitomi beigestanden, dieser innerlich so zerissenen Person. Die Angst davor aus dieser Welt aber nicht mehr herauszukommen hielt mich zurück …

Mit einem wunderschönen Prolog, bildhaft und für mich anmutig, führt Lucadou in die Geschichte hinein, und mit einem grandiosen Epilog wieder hinaus. Dazwischen nimmt einen ein intelligent erzählter Plot gefangen und die Faktensparsamkeit mit der die Autorin ihren dystopischen Roman entwirft, die Willkür und Allmacht eines Staates darstellt, macht betroffen. Wahrhaft gläsern ist hier der Mensch, gemessen und bewertet werden eher nicht mehr die Potentiale, diese züchtet man schon gezielt, sondern die Anpassungsfähigkeit des Einzelnen.

Datingportale vs. Geburtenkontrolle – alles Leben hat eine digitale Dimension. Totale Überwachung, George Orwell und Aldous Huxley lassen grüßen. Wenn ich darüber nachdenke, wie wichtig es mir ist, regelmäßig sozialmediale Sendepausen einzulegen um mich digital zu entgiften, in einer solchen Zukunft käme das einem Selbstmord gleich.

Zu Funktionieren ist Bedingung, und zwar störungsfrei. Das man für seine Gesunderhaltung auch wirklich etwas tut, hier sind die Vorgaben sehr konkret, wird durch Überwachung sichergestellt, Fitnesstracker zu tragen ist Pflicht. Bei Verstößen wird gestraft. Materiell, durch Entzug von Kreditlinien, Job, Stand und Wohnprivilegien.

Spannend und verstörend ist diese Geschichte – fasziniert, ungläubig, ja entsetzt folgt man der weiteren Handlung. Die Personen/Figuren scheinen plötzlich ihre Rollen zu tauschen. Wer hält eigentlich das Heft des Handelns in der Hand? Wer das Zepter der Macht? Wer hält seine Hand schützend über wen? Wer ist Feind und wer Freund?

Die Zurückhaltung mit der die Autorin Vorgehens-, Verhaltensweisen und Umstände beschreibt wirkt brutaler und bitterer als die Schilderung von Gewaltszenarien, die man in anderen Romanen antreffen kann. Es entsteht so eine Eindringlichkeit die tief geht, mich wirklich angefaßt hat. Hut ab dafür!

Kühl ist die Atmosphäre, sie knistert von Elektronik, ohne Zahl sind in der Stadt und in allen Räumen Überwachungskameras verteilt. Die Luft scheint förmlich zu flimmern von ihren Bildern, die so auch für einen großen Personenkreis zugänglich sind. Für mich als konventionell aufgewachsenes Landei, ist das eine echte Horrorvorstellung. Wie wir uns gerade an der neuen Datenschutzgrundverordnung und an den Rechten am eigenen Bild abarbeiten, wirkt dagegen wahrhaft gestrig.

Schöne, neue Welt – Wer der Gesellschaft nicht dient, hat keinen Wert. Biologisch normale Familien? Was ist das? Betrachtet man die technische Machbarkeit sind wir an einer solchen Welt näher dran als wir wohl wahrhaben wollen. Moralisch und ethisch wähnen wir uns noch Lichtjahre von einer solchen Gesellschaft entfernt. Ist das so? Ich bin mir da alles andere als sicher …

Was mich aber am meisten fasziniert hat an diesem Roman ist das, was unausgesprochen bleibt, was die Autorin nur andeutet. Sofort hat es in meinem Kopf und in meinem Innereren weitergearbeitet. Die vielen Möglichkeiten die sich so ergeben, so offen bleiben und besonders dieses Ende. Vor Fassungslosigkeit ist mir immer noch ganz kalt …

Textzitat: “Es gibt kein Davor. Die Vergangenheit, die mich hierhin brachte, berührt mich nicht mehr.”

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    2. Oktober 2018

    Liebe Dorothee, vielen Dank! Das ist mir ein Ansporn! LG Petra

  2. Dorothee
    2. Oktober 2018

    Wiedermal eine neugierig machende Rezension! Vor allem finde ich den persönlichen Einstieg des Textes sehr gut! Es macht wirklich Freude, das zu lesen!

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