Der Schatten des Windes (Carlos Ruiz Zafón)

Freitag, 22.12.2017

Textzitat: “Es gibt Dinge, die man nur im Dunkeln sieht”.

Mittlerweile glaube ich, es gibt sie wirklich, diese Geschichten die verborgen in den Regalen einer Buchhandlung, in einer Kiste auf dem Dachboden, an einem Flohmarktstand, oder in einem Antiquariat auf mich warten, auf mich und auf den richtigen Moment. Wie sonst kann es sein, dass alle anderen sie schon gelesen, ihre Begeisterung kundgetan haben, ohne das ich selbst sie wirklich wahrgenommen habe? Urplötzlich kommen sie dann aus dem Schatten, überziehen einen nach den ersten Sätzen mit einer Ganz-Körper-Gänsehaut. Nein, sie gehören nicht zu den Neuerscheinungen, drängeln sich nicht schon im Eingangsbereich großer Länden mit anderen frisch gedruckten Exemplaren um die besten Plätze.

Diesen Schatz hier aber habe ich in meinem eigenen Bücherregal gehoben. Beim Aufräumen entdeckt, ganz nach hinten unten war er durchgerutscht, außer Sicht, weg gedrängt von immer neuem Hör-und Lesestoff. Vergessen im eigenen Friedhof der ungelesenen, der ungehörten Geschichten …

Der Schatten des Windes (Carlos Ruiz Zafón)

Barcelona, 1945. Daniel war jetzt elf und heute wollte sein Vater ihn in ein großes Geheimnis einweihen. Niemandem dürfe er davon erzählen, schärfte der Vater ihm ein. Niemandem außer seiner toten Mutter vielleicht. Mit ihr besprachen sie nach wie vor einfach alles. Daniel war gerade vier gewesen, als er seine Mutter Isabella an die Cholera verloren hatte. Dieser Verlust lastete noch immer schwer auf ihm und dem Vater. Tapfer hielten sie sich, mit den teils mageren Einkünften aus dem kleinen Antiquariat des Vaters, in Barcelona über Wasser …

Der Friedhof der vergessenen Bücher, verbarg sich in einem alten Gebäude, der Türklopfer schien teuflich zu zwinkern, als sein Vater ihn betätigte. Mit klopfendem Herzen und offenem Mund fand sich Daniel nach dem Übertreten der Türschwelle in einem wahren Labyrinth von Büchern wieder. Jedes Buch hier war einmal jemandes bester Freund gewesen und jeder, Leser oder Leserin hatte zwischen den Seiten unsichtbare Freunde gefunden. Das erklärte ihm sein Vater leise flüsternd. Der, der den Friedhof der vergessenen Bücher zum ersten Mal betrat, dürfe sich ein Buch aussuchen, es aus der Vergessenheit befreien. Daniel sei jetzt alt genug, meinte der Vater, auch ein Buch zu adoptieren. Daniel verschwand zwischen den turmhohen Regalen, vom Vater schon früh mit Buchstaben gefüttert und buchbegeistert wie er war, begann er durch diesen Irrgarten aus Seiten und Buchrücken zu stöbern …

In nur einer Nacht hatte Daniel den Schatten des Windes” von Julian Carrax verschlungen und die Geschichte ließ ihn fortan nicht mehr los, fast zur Besessenheit wurde sie ihm. Er hütete sie wie einen Schatz, unbedingt wollte er mehr über diesen Autor erfahren …
Wer war dieser Mann, der aus dem Dunkel trat, sein Gesicht in den Schatten verborgen hielt und ihn unverwandt anzuschauen schien? Daniel erschrak. Lässig eine Zigarette rauchend forderte dieser geisterhafte Schatten drohend, ohne weitere Vorankündigung, die Herausgabe des kostbarsten was Daniel besaß – den “Schatten des Windes“. Jeden Preis wollte dieser unheimliche Fremde zahlen und dieser Mann schien alles von ihm zu wissen, auch das er unsterblich in die ätherisch schöne Clara verliebt war. Daniel hatte noch nie solche Angst gehabt, er gab sich großspurig, aber innerlich zitterte er. Die aufleuchtende Glut der Zigarette des Mannes, warf ein schwaches Licht auf dessen Gesicht, oder besser auf kein Gesicht. Denn es war grausam entstellt und nahezu komplett von schrecklichen Brandnarben übersäht.

Wie von Furien gehetzt floh Daniel, Schutz suchend vor einem herannahenden Gewitter durch das nächtliche Barcelona zu Claras Wohnung. Ihr hatte er den “Schatten des Windes” geschenkt, und er wurde das Gefühl nicht los, das er sie damit in Gefahr gebracht hatte. Hatte sie ihm nicht auch erzählt, das ein Fremder sie in ihrem Stamm-Cafe angesprochen und sich von ihr, der blinden jungen Frau, das Gesicht hatte betasten lassen um sich bekannt zu machen? Hatte sie ihm nicht geschildert wie verstörend sich dieses Gesicht angefühlt hatte? …

Carlos Ruiz Zafón wurde 1964 in Barcelona geboren. “Der Fürst des Nebels” war sein erster Roman, für den er 1996 einen Jugendliteraturpreis erhielt. “Der Schatten des Windes” trug ihn 2003 bis an die Spitze der Bestseller-Listen.

Schicksalhafte Begegnungen, detektivischer Ehrgeiz, wahrhaftige Liebe in Barcelona, Traumstadt am Meer. Kann sich ein Schicksal, kann sich eine Lebensgeschichte wiederholen, obwohl sich die beiden Leben nicht einmal berührt haben?

Eine Diktatur im Herzen von Europa. Willkür, Armut und Elend, Inhaftierungen und Folter waren im Spanien der neunzehnhundertfünfziger Jahre an der Tagesordnung. Die Figuren dieser Geschichte sind eingebunden in dieses düstere Kapitel der spanischen Geschichte.

Zafón versteht es zudem, wie kein zweiter, über die Leidenschaft, die Faszination zu schreiben, die das Lesen ausmacht. Seine Sätze sind wahrhaftig, mal traurig, mal tröstlich, mal humorvoll, einfach magisch. Eine Geschichte voll von Auf’s und Ab’s, voll von Trommelwirbeln. Wenn Zafon beschreibt, das in dem Viertel Barcelonas, in dem der Friedhof der vergessenen Bücher liegt, das 19. Jahrhundert noch nichts von seiner Pensionierung erfahren hat, hier Dinge wie Eile und Armbanduhren nicht stattfinden, könnte ich niederknien.

Der Kreis schließt sich mit einem wunderbaren Epilog, kraftvoll und melancholisch zugleich. Wieder betreten ein Vater und ein Sohn den Friedhof der vergessenen Bücher…

Beim Hören dieser Geschichte breitete sich eine angenehme Wärme in mir aus, ich konnte bei diesen Sätzen tief durchatmen. Es geht mir wohl wie Daniel Sempere – dieser Roman wird immer ein besonderer für mich, und meine Lieblingsfigur Fermin Romero de Torres mit seiner unverwüstlichen Zuversicht bleiben …

HörbuchVersion: Buch oder Hörbuch. Er ist wieder einmal Schuld, das meine Entscheidung hier zu Gunsten des Hörens ausfiel. Was bleibt mir über Uve Teschner noch zu sagen? Alle die, die schon länger bei mir mitlesen wissen, ich bin sein Fan! Egal ob nachdenklich, gruselig, mystisch, liebevoll, streitlustig oder phantasievoll – er kann alles lesen. Er stützt diesen Roman mit seiner Stimme und Ausdruckskraft, verleiht ihr einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Ach, ich könnte ihm ewig zu hören …

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